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Newsletter vom 29. 8. 2021

Interviews zur Schulentwicklung lassen aufhorchen

Zum Schulstart sind die Zeitungen wieder voll mit Beiträgen rund ums Schulgeschehen.  Auffallend ist die beachtliche Zahl an Interviews mit bekannten Persönlichkeiten in den grossen Printmedien. Wir haben drei der Interviews für Sie ausgewählt und mit zwei pointierten Kommentaren ergänzt. Direkte Befragungen von Personen, die an den Hebeln der bildungspolitischen Entscheidungen sitzen, decken oft Überraschendes auf, sofern man bereit ist, auch ab und zu zwischen den Zeilen zu lesen.

Was guten Unterricht ausmacht, ist bekannt

Ganz bewusst haben wir den Interviews ein brillantes Essay von Carl Bossard vorangestellt. Der Autor erinnert darin auf prägnante Weise, worauf erfolgreicher Unterricht beruht. Er nimmt Bezug zu den aufschlussreichen Untersuchungen von John Hattie, die den Wirkungsgrad von digitalen und analogen Lehrmethoden beurteilen. So bringt digitales Lernen auf dem eigenen Laptop bei Anwesenheit einer begleitenden Lehrperson im Raum wenig, wenn es um den Erwerb neuer Kompetenzen geht. Interessant ist hingegen, dass in den elektronischen Medien die direkte Instruktion durch einen Lehrer in interaktiven Videos ein breites Publikum anspricht. Diese in analoger Form meist gedankenlos als Frontalunterricht bezeichnete Methode erweist sich bei der Einführung neuer Sachverhalte als sehr wirksam. Offensichtlich erkennen immer mehr Lernende, dass man mit einer klaren Führung durch kompetente Lehrerinnen und Lehrer mehr Chancen hat, grosse Lernfortschritte zu machen. Für alle Lehrpersonen mit pädagogischem Feuer ist das sicher eine ermutigende Bestätigung.

Eine Forscherin und ein Politfuchs äussern sich zu Schulalltag und Schulpolitik

In unserem ersten Interview legt die ETH-Bildungsforscherin Elisabeth Stern den Finger auf die Bedeutung des lebendigen Unterrichts auf allen Schulstufen. Anregendes Üben im Klassenverband und die wichtigen sozialen Kontakte mit den Mitschülern könnten durch nichts Gleichwertiges ersetzt werden. Die Forscherin sieht in den durch Fernunterricht entstandenen Defiziten der Corona-Zeit ein ernstes Problem für einen grossen Teil der Kinder und Jugendlichen. Ihre Forderung, man müsse sich in den kommenden Jahren wieder stärker auf die wesentlichen Bildungsziele in Deutsch und Mathematik konzentrieren, stehen dabei in einem gewissen Widerspruch zur Überfülle im neuen Lehrplan.

Mit Stadtrat Filippo Leutenegger kommt im zweiten Interview ein bildungspolitisch gewiefter Fuchs zu Wort. Bei seinen Antworten merkt man, dass er mit einigen politischen Entscheidungen in der linksdominierten Stadt Zürich seine liebe Mühe hat. Beim Abzockerfall Rodriguez distanziert er sich von dem unverschämten Vorgehen des Schulkreispräsidenten, lehnt aber eine Verantwortung der Exekutive ab. Er deutet an, dass eine – wohl umstrittene - Neuorganisation der städtischen Schulen nötig sei. Der anschliessende Kommentar von Daniel Schneebeli zeigt, was sich da im Stadtzürcher Bildungswesen noch alles zusammenbrauen könnte. Um einiges konkreter äussert sich Leutenegger zu Themen des Schulalltags wie Mobbing in den Klassen, zur Mitsprache der Eltern oder über den Schulweg der Kinder. Da sind seine Antworten wirklich praxisnah.

Beim Lehrermangel gibt es einen blinden Fleck

In unserem dritten Interview nimmt PHZH-Rektor Heinz Rhyn zu den aktuellen Herausforderungen im Lehrerberuf Stellung. Der grosse Zulauf junger Studierender zur Lehrerbildung sei hoch erfreulich und zeige, dass seit der Coronakrise die differenzierten Anforderungen an den Lehrerberuf viel besser in der Öffentlichkeit wahrgenommen würden. Corona habe den Lehrerberuf wieder aufgewertet.

Keine Entwarnung konnte Rhyn jedoch bezüglich des andauernden Lehrermangels geben. Trotz steigender Eintrittszahlen in die Pädagogischen Hochschulen werde es nicht gelingen, die Zunahme der Schülerzahlen in der Volksschule durch mehr Lehrpersonen ausreichend abzudecken.

Leider weist Rhyn mit keinem Wort darauf hin, dass die Absenz der Männer in der Primarschule sehr viel zum allmählich chronisch werdenden Lehrermangel beiträgt. Wenn heute deutlich weniger als zwanzig Prozent der Lehrpersonen auf der Mittelstufe Männer sind, kann man davon ausgehen, dass das pädagogische Potenzial der Männer bei weitem nicht ausgeschöpft wird. Die Bildungspolitik macht wie oft in heiklen Fällen einen Bogen um dieses Thema. Kaum jemand will sich die Finger bei einer Frage verbrennen, die ziemlich quer zum Zeitgeist steht. Wir wagen es trotzdem und versuchen im anschliessenden Kommentar die Gründe für das Fernbleiben der Männer in der Primarschule aufzudecken.

Zu grosser Einfluss der Bildungsverwaltungen auf das Schulgeschehen

Ganz schön mutig zeigt sich die Stadtzürcher Schulleiterin und FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois. Sie stellt die These auf, dass in der Volksschule das Volk immer weniger zu sagen hat und die Verwaltungen einen zu grossen Einfluss auf das Schulgeschehen nehmen. Sie zeigt an konkreten Beispielen auf, wie gross der Druck für Lehrerinnen und Lehrer geworden ist, auch pädagogisch höchst fragwürdigen Empfehlungen zu folgen. Wer Weisungen wie das konsequente Verwenden von Gendersternchen im Schulbereich missachtet, riskiert zurechtgewiesen oder gar ausgegrenzt zu werden.

Die Autorin kritisiert die Absicht des Stadtrats, die Stundenpläne des Tagesschulmodells so festzulegen, dass das alternative Mittagessen im Familienkreis zur Ausnahme wird. Die politische Situation in der Stadt erlaubt es den Bildungsverantwortlichen, eine ganze Reihe umstrittener Schulreformen voranzutreiben, ohne sich gross Rechenschaft über den längerfristigen Erfolg der kostspieligen Massnahmen geben zu müssen. Zu Recht wehrt sich die Gemeinderätin gegen das Überhandnehmen von ideologischen Konzepten in der Volksschule und den Mangel an gesunder pädagogischer Vernunft.

Erhellende Einblicke in die Heilpädagogik und in didaktische Grundfragen

Den Abschluss unseres Newsletters bilden eine Buchempfehlung und zwei herausfordernde Beiträge über didaktische Konzepte. Urs Kalberer ist begeistert vom spannenden Buch mit dem Titel „Heilpädagogik im Dialog“ von Eliane Perret und Riccardo Bonffranchi. Die beiden erfahrenen Lehrerpersönlichkeiten haben es auf erfrischende Art verstanden, die Menschlichkeit ins Zentrum der Sonderpädagogik zu stellen und überzeugende Lösungen zu entwickeln.

Wer sich gern in schwierige didaktische Themen vertiefen möchte, wird bei den beiden letzten Beiträgen voll auf die Rechnung kommen. Peter Aebersold setzt sich mit dem kindlichen Spracherwerb und dem Prozess des Lesenlernens intensiv auseinander, während bei Christine Stähelins Text kritische Gedanken zum unausgegorenen Kompetenzenmodell des neuen Lehrplans für die Gymnasien zu finden sind.

Wir wünschen Ihnen beim Lesen der spannenden Lektüre viel Vergnügen.

Redaktion Starke Volksschule Zürich

Hanspeter Amstutz