Springe zum Inhalt

Newsletter vom 6.12.2020

Die duale Berufsbildung – eine rundum gute Sache

Eine sehr vielfältige und ausgewogene Beilage zur Berufsbildung hat uns die NZZ letzte Woche beschert. Für einmal ohne die unnötige und vom Wesentlichen ablenkende «Grundsatzfrage» in den Raum zu stellen, ob unsere Gesellschaft es gerechterweise nicht allen Jugendlichen ermöglichen sollte, die Matura zu machen. Claudia Wirz malt in ihrem Artikel «Das Gymnasium ist überschätzt» aus, wie grotesk solche «Gerechtigkeits-Überlegungen» sind. Sie werden nämlich den unschätzbaren Vorzügen der schweizerischen dualen Berufsbildung in keiner Weise gerecht: Für das Leben der einzelnen Jugendlichen (damit ist nicht nur ihre berufliche Zukunft gemeint!), für die hohe Qualität des Wirtschaftsstandortes, für die ausserordentlich tiefe Jugendarbeitslosigkeit und für eine lebendige Demokratie. «Das historisch gewachsene Schweizer Berufsbildungssystem ist ein gut funktionierendes Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft», so noch einmal Claudia Wirz in ihrer Besprechung von Emil Wettsteins neuem Buch «Berufsbildung. Entwicklung des Schweizer Systems» («Die Schule der Nation»).

Mich haben die Zufälle des Lebens nach meinem Studium in die Berufsschule geführt, wo ich jungen Leuten in gewerblich-technischen Berufen und später auch im KV ein Stück Allgemeinbildung mitgeben durfte. «Warum bist du als Juristin Berufsschullehrerin und nicht Anwältin geworden?» Diese Frage wurde mir häufig gestellt. Sie ähnelt der Meinung, aufgeweckte und lernfreudige Schüler sollten keine Lehre machen, sondern unbedingt das Gymi besuchen. Auf solche merkwürdigen Ideen kommen vor allem Akademiker, ich eingeschlossen, bevor ich Berufsschullehrerin wurde. Als ob man als Juristin nicht Freude daran haben könnte, mit jungen Menschen die Geheimnisse der Rechts- und Wirtschaftskunde zu erkunden, mit ihnen zu lesen und zu schreiben und dabei ihre Deutschkenntnisse zu verbessern – und den einen oder die andere fürs Lesen zu begeistern. Und was mir besonders am Herzen lag: Sie dafür zu gewinnen, aktive Bürgerinnen und Bürger in der direkten Demokratie zu werden, indem ich das Interesse an den staatsrechtlichen Grundlagen weckte und mit ihnen Zeitung las und das Abstimmungsbüechli entschlüsselte. Dass man in einer Anwaltskanzlei mehr verdienen würde, ist ja nicht für jeden prioritär.

Einstieg in die Lehre: Ärmel hochkrempeln und los geht's!

Eine meiner ersten tiefgehenden Erfahrungen in der Berufsschule waren die Aufsätze, die meine Elektromonteur-, Maschinenmechaniker- und Mechapraktiker-Klassen (heute heissen die Berufe anders) nach den ersten drei oder vier Monaten ihrer Lehre zum Thema «Von der Schule zum Berufsleben» – oder so ähnlich – schrieben. Wie die 15-, 16-Jährigen die enorme Umstellung vom gemütlichen Oberstufenschüler-Dasein zum strengen und vollen Einsatz fordernden Arbeitstag anschaulich beschrieben und innert weniger Monate bewältigten, wie sie (fast ausnahmslos) ihre Freude am Beruf, am eigenständigen Schaffen, ihren Stolz auf die ersten selbsterstellten Arbeitsstücke und natürlich auch auf den ersten Zahltag zum Ausdruck brachten, erschütterte meinen Akademiker-Hochmut in den Grundfesten. Was für eine einmalige Chance die duale Berufslehre einem Grossteil unserer jungen Leute bietet, in der wichtigen Lebensphase zwischen 15 und 20 zu reifen und ihren Platz im Leben einzunehmen! Ähnliche Beobachtungen schildert in diesem Newsletter Kollege Thomas Pfann, der vom Gymi zur Berufsschule gewechselt hat und dort Allgemeinbildung unterrichtet: «Nach zwei Monaten sind die meisten keine Sekundarschüler mehr, das merkt man» («Näher am Leben»).

Damit will ich keineswegs sagen, dass das Gymi nicht auch eine gute Wahl sein kann – mir jedenfalls hat das intensive Lernen im Klassenzimmer und zu Hause (meistens) Freude gemacht. Ebenso klar ist, dass es zu den Aufgaben von uns Berufsschullehrern gehört, jeden Jugendlichen, der gerne nach der Lehre eine Weiterbildung machen will, vielleicht die Berufsmatura und ein Studium, nach Kräften zu unterstützen. Dabei hilft ihm das ausgesprochen durchlässige Schweizer Bildungssystem: «Wer will, kann – aber niemand muss nach weiteren Diplomen streben», hält Robin Schwarzenbach in seinem Leitartikel zur NZZ-Bildungsbeilage richtig fest. Auch fasst manch eine, die mit 14 den «Schulverleider» hatte, in der Berufsschule neuen Mut zum Lernen, wenn die Lehrerin sie «richtig nimmt». Zum Beispiel so, wie unser geschätzter Kollege Carl Bossard es auch diesmal in seinem ermutigenden Artikel vormacht: «Franz, du schaffst das!»

Nun lade ich Sie ein, in die reichhaltige Welt der Berufslehre einzutauchen, die wir Ihnen in diesem Newsletter anbieten.

Jeder junge Mensch sucht sich seinen eigenen Weg in die Zukunft

Wir erfahren von Lorin, der «keine Lust mehr auf Schule» hatte und nun mit Begeisterung Schreiner lernt. Ein Glück, dass seine Eltern es schafften, «über ihren Schatten zu springen», dann wird es für den mutigen Umsteiger leichter. Es gibt auch den umgekehrten Weg: Eine junge Frau, die nach der Matura eine Lehre als Konstrukteurin absolviert, mit verkürzter Lehrzeit und viel Spass am «Zeichnen, planen, rechnen». Andere junge Technik-Freaks lernen in der SR Technics am Flughafen Zürich, dass am Flugzeugtriebwerk keine Fehler passieren dürfen, denn: «In der Luft gibt es keinen Pannenstreifen». (An der Berufsschule Bülach, wo ich unterrichtet habe, hatten wir pro Jahr eine ganze Polymechaniker-Klasse aus der SR Technics.)

Eine Fleischfachfrau im dritten Lehrjahr berichtet von ihrer «abwechslungsreichen und kreativen Arbeit» und ihrer Freude am Kontakt mit den Kunden. Die junge Frau aus dem Appenzellerland hat auch an den Berufsmeisterschaften teilgenommen («Ich könnte keine Tiere schlachten»). Hier treffen sich die Einsatzfreude und die Leistungsbereitschaft vieler junger Berufsleute und das Interesse der Schweizer Wirtschaft an Spitzenkräften, vor allem in den gewerblichen Branchen. Wie ein solcher Wettkampf abläuft, erfahren wir in der Reportage «Seht her, wir bauen einen Smoker-Grill!» Obwohl die jährlichen Swiss Skills dieses Jahr wegen Corona nur in kleinem Rahmen und mit wenig Publikum stattfinden, liessen sich die jungen Anlagen- und Apparatebauer aus der Ostschweiz nicht davon abhalten, vier Tage lang vollen Einsatz zu leisten.

Ein Beispiel für die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems ist Aleksandra Milosevic: Mit 13 ist sie aus Serbien in die Schweiz gekommen, ohne ein Wort Deutsch zu können. Nach ihrer Lehre im Detailhandel absolvierte sie die BMS, dann die Passerelle (Übergang zum Hochschulstudium), jetzt, mit 27, studiert sie Germanistik und Geschichte an der Uni Bern. «Hier kann man alles erreichen», sagt Aleksandra heute. Zugegeben, wie Sand am Meer gibt es solche Karrieren auch in der Schweiz nicht, aber es gibt sie. Anders als in vielen Ländern findet man hier auch den CEO eines Grosskonzerns, der nicht mit der Matura, sondern mit einer Mechanikerlehre angefangen hat («Die Berufslehre hat ein Imageproblem»), und er ist bei weitem nicht der einzige. Denn es gehört zum dualen Berufsbildungssystem, dass gute Leute auch an die Spitze kommen können – wenn sie wollen. Andere bleiben lieber in ihrem praktischen Beruf. Sie finden ein erfülltes Arbeitsleben als Maler oder Bäcker oder Fachangestellte für Gesundheit, mit einer unschätzbaren Fülle von Wissen und Kenntnissen, die sie gerne an die jungen Generationen weitergeben. Gerade diese Kenner und Könner sind ein wichtiger Motor für das Fortbestehen der dualen Berufsbildung.

Berufslehre in andere Länder tragen

Die Idee von Samuel Notz («Exportschlager Berufslehre»), das Schweizer System der Welt zugänglich zu machen, ist selbstverständlich nicht neu: Die DEZA und viele freiwillige Fachleute setzen sich schon seit langem dafür ein, auch Ländern in den ärmeren Regionen der Welt die Berufslehre näherzubringen und sie beim Aufbau von Lehrwerkstätten und der Schulung von Ausbildnern zu unterstützen. Aber ob sich ein rein digitales Programm als gewinnbringendes Businessmodell für die Verbreitung der Berufslehre eignet, ist eher fraglich. Das Foto des selbst geflochtenen Butterzopfs ist ja gut und recht, aber mich als Konsumentin würde doch auch sehr interessieren, wie gut der Zopf schmeckt.

Duales Berufsbildungssystem nicht aufs Spiel setzen!

Mit Peter Aebersolds hervorragendem Beitrag zu Heinrich Pestalozzis Wirken schliesst sich der Kreis. Eine gute Grundbildung für alle war diesem weit vorausblickenden Pädagogen eines der grössten Anliegen, und gerade diese ist heute mit den untauglichen und für viele Kinder schädlichen Experimenten in der Volksschule in Gefahr. Das für unsere Jugend und die Gesellschaft existenzielle duale Berufsbildungssystem muss auf soliden Grundlagen aufbauen können. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.

Für die Redaktion Starke Volksschule Zürich

Marianne Wüthrich