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Newsletter vom 22. 11. 2020

Deutschlernen als Denkschulung

Mein jüngerer, bald vierjähriger Enkel freut sich riesig, wenn ich ihm im Märklin -Eisenbahnkatalog die Lokomotivtypen erkläre und über den Eisenbahnbetrieb berichte.  Da er den Katalog schon recht gut kennt, kommentiert er manche Bilder gleich selber. Man merkt es, dass ihn die Sache fasziniert und dass es ihm Freude macht, sein Wissen mit seinen eigenen Worten mitzuteilen.

Erlebnisse aus der Kinderwelt veranschaulichen und erklären

Zu seinen Eigenheiten gehört es, dass er beim alleinigen Durchblättern des Katalogs gerne laut spricht und plaudernd den neuen Wortschatz verwendet. Diese Art des Spracherwerbs setzt aber voraus, dass den Kindern zuerst ein Stück Welt erschlossen wird. Wenn eine Mutter zusammen mit ihrem Fünfjährigen einen Kuchenteig zubereitet und laufend erklärt, was sie gerade macht, dann findet beim Kind ein Lernprozess statt. Einladende Wimmelbücher zu Themen wie Baustellen, Bauernhöfen oder einem liebevoll dargestellten Tagesablauf sind bei Kindern so beliebt, weil sie direkten Bezug zu ihren Erlebniswelten nehmen. Vorschulkinder fühlen sich angesprochen und schauen genau hin um neue Details zu entdecken. Es braucht dabei aber jemanden, der ihnen die kleinen Geschichten erzählt und so ihren Wortschatz erweitert.

Wenn man die Freude der Jüngsten am muttersprachlichen Ausdruck sieht, fragt man sich schon, weshalb am Ende der Schulzeit die sprachlichen Kenntnisse bei vielen höchst mangelhaft sind und die Lust am Formulieren verloren gegangen ist. Die schlechten Bildungschancen von Kindern aus bildungsfernen Haushalten reichen als alleinige Erklärung nicht aus. Die Defizite betreffen mit dem Leseverstehen einen Bereich, in dem offensichtlich Sachwissen und soziale Erfahrungen eine zentrale Rolle spielen.

Sich mehr Zeit für wesentliche Themen nehmen

Könnte es sein, dass in der Schule die nötige Musse für das Eintauchen in sprachfördernde Sachgebiete fehlt, weil das vollgestopfte Bildungsprogramm zum schnellen Stoffvermitteln drängt? Wer als Lehrer nebeneinander drei Sprachen vermitteln, die Kinder über die Medienwelt, über Computerwissen und alle Weltreligionen aufklären soll, steht unter dauerndem Druck. Irgendwo wird dann abgebaut. Bildungspolitiker versprechen, alles sei möglich, wenn die richtige Didaktik angewendet werde. Doch ohne die nötige Zeit bleibt diese Aussage hohl. Spracherwerb im Deutsch bedeutet, dass Realienthemen sorgfältig vermittelt, in Klassengesprächen vertieft und in gestalterischer Form bearbeitet werden. Grosse Themen wie die Römerzeit, das Leben eines einheimischen Wildtiers oder das Schicksal eines Flüchtlingskinds sollen in der Klasse längere Zeit ganz im Zentrum stehen. Erfahrene Lehrpersonen wissen, wie wichtig das Kreisen der Gedanken um einen bewegenden Lerninhalt durch geeignetes Anschauungsmaterial unterstützt werden kann.

Förderung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit als Kernziel

Im aufschlussreichen Leitartikel unseres Newsletters befasst sich Carl Bossard mit der engen Verbindung zwischen Denken und Sprache. Der Autor erinnert daran, dass die Ausdrucksfähigkeit in der deutschen Sprache das Kernziel einer guten Bildung ist. Er zeigt anhand einer feinsinnigen Geschichte auf, wie wichtig das Sammeln, Sortieren und Verarbeiten von Gedanken ist. Diese müssen eine Gestalt in Form von Sprache finden. Dieser Prozess ist spannend, verlangt aber Ausdauer und den Willen zur Präzision. Ein Deutschunterricht mit dem Ziel einer guten Sprachkompetenz sollte auf anschauliche Weise Sachfragen klären und die Freude an sprachlichen Formen vermitteln. Abkürzen, wie dies oft suggeriert wird, kann man dabei nicht.

Mit den mangelnden Deutschkompetenzen unserer Schulabgänger setzt sich auch Peer Teuwsen auseinander. Der Autor beschönigt nichts und weist all die bekannten Entschuldigungen zurück. Kurzfutter-Botschaften auf den Handys sind für ihn keine Briefe und Notizen zu einem Thema noch lange keine Aufsätze. Schonungslos rechnet er ab mit der schleichenden Abwertung der deutschen Sprache durch die Invasion englischer Ausdrücke in bald jedem Text. Der Beitrag ist ein erfrischender Weckruf, der uns auf pointierte Art an die Bedeutung unserer Muttersprache erinnert.

Die Coronakrise trifft die Schule hart

Die belastende Situation der Schulen in der Coronazeit kommt in vielen Berichten zum Ausdruck. Wer mehr über den Schulbetrieb im Corona-Modus und über das aktuell gar nicht so lustige Studentenleben erfahren möchte, wird hier auf seine Rechnung kommen. Für Begeisterte des digitalen Lernens ist es wohl überraschend, dass eine holländische Studie den Fernunterricht in der Primarschule trotz grossem Einsatz der Lehrpersonen als weitgehend wirkungslos bezeichnet. Es dürfte sich längerfristig ungünstig auf die Klassen auswirken, wenn schwächere Schüler nach einem Vierteljahr Fernlernphase weniger können als vorher. Bei Studierenden an den Hochschulen ist die Arbeit am Bildschirm hingegen eine Chance, um selbständig weiterlernen zu können. Dennoch vermissen die Studierenden den direkten Gedankenaustausch in den Gängen der Universität und in der Cafeteria sehr.

Klare Stellungnahmen zu zwei umstrittenen Themen

Im dritten Beitragsblock geht es um zwei höchst umstrittene Themenkreise. Da ist einerseits der happige Vorwurf zweier Feministinnen im Sonntagsblick, die Lehrmittel in unserer Volksschule seien «im Kern rassistisch». Diesen Rassismus-Vorwurf lassen wir nicht gelten und veröffentlichen zwei Beiträge, welche die populistischen Behauptungen detailliert widerlegen. Den Abschluss dieses Themenblocks bildet ein höchst unterhaltsames Interview mit Allan Guggenbühl über das Lernverhalten und die Erziehung von Buben.

Wir möchten den Newsletter nicht abschliessen, ohne den kürzlich verstorbenen grossen Kinderarzt Remo Largo zu würdigen. Seine bahnbrechenden Bücher haben unzähligen Eltern geholfen, in Erziehungsfragen gelassener zu reagieren. In einem feinsinnigen Nachruf hebt Allan Guggenbühl nochmals Remo Largos grosse Bedeutung für die Kinderpsychologie hervor.

Sie sehen, es fehlt nicht an gehaltvollen Texten.

Für die Redaktion Starke Volksschule Zürich

Hanspeter Amstutz