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Newsletter vom 8.11.2020

Vielfältige Aspekte des Lernens

Im neuen Newsletter bieten wir Ihnen zunächst zwei Beiträge von ausgewiesenen Fachleuten an, die aus ganz verschiedenen Blickwinkeln die Probleme der Digitalisierung in Schule und Familie unter die Lupe nehmen.

Digitale Medien in der Schule …

Der Medienwissenschafter Ralf Lankau warnt seit Jahren vor einer unkritischen «digitalen Bildungsoffensive» (nicht nur) an deutschen Schulen. In seinem Interview in der FAZ findet sich eine reichhaltige Palette an Überlegungen. Zum Beispiel rät er dringend davon ab, das ganze Budget in digitale Lehrmittel zu stecken, denn erfolgreicher Unterricht hängt nicht in erster Linie von der Art der Medien ab, sondern von der Lehrerpersönlichkeit. Es müsse Sache des Lehrers bleiben zu entscheiden, welche Medien er als Ergänzung zum Präsenzunterricht einsetzt. Gerade während des Fernunterrichts habe sich gezeigt, dass Lernen im Klassenverband mit Lehrkräften eine ganz andere Qualität hat.

Ralf Lankau hat sich ausserdem gründlich mit der Datensicherheit in den digitalisierten Schulen auseinandergesetzt. Er empfiehlt dezentrale Strukturen mit lediglich lokalem Zugriff, weil zentralisierte Systeme "mit einem einzigen Hack" angegriffen werden können. Und er besteht auf "Datensparsamkeit": Es ist nicht Aufgabe der Schule, Lern- oder Persönlichkeits­profile der Schüler zu erstellen und ihren Lernprozess zu überwachen. Datenschutz beinhaltet auch den Schutz der Privatsphäre der Schüler: Mehr Vertrauen in die einzelne Persönlichkeit statt ständiger Lernkontrollen und -diagnosen ist ein Gebot der Stunde.

… und in der Familie

Der zweite Beitrag zum Thema Digitalisierung setzt aus der Sicht der Heilpädagogin und Psychologin ebenfalls am letztgenannten Punkt (Vertrauensbeziehung statt Kontrolle) an: Eliane Perret zeigt am Beispiel einer Familie auf faszinierende Weise, wie Eltern sich mit ihrem jugendlichen Sohn gemeinsam an den Umgang mit dem Smartphone herantasten, Schritt für Schritt, wie sie ihre Fürsorgepflicht im Internet-Zeitalter wahrnehmen, aber auch mit rechtlichen Fragen konfrontiert werden. Und wir erfahren, dass es für die Eltern nicht nur darum geht, ob und wann sie dem Kind das kleine Gerät in die Hand drücken sollen, sondern dass das Smartphone zum gemeinsamen Projekt werden kann. Dabei eröffnet ein sinnvolles Zusammenspiel der unterschiedlichen Persönlichkeiten Vater, Mutter, Sohn oder Tochter neue Wege für das Familienleben.

Seit dem Frühjahr haben wir immer wieder Eltern und Lehrer zu ihren Erfahrungen während der Schulschliessungen zu Wort kommen lassen, so auch dieses Mal. Ein Lehrerpaar mit Kleinkind berichtet, wie sie vieles ausprobiert haben und rückblickend feststellen, dass manches, wie zum Beispiel ein Elternabend, "halt nur im persönlichen Kontakt funktioniert" und dass die Digitalisierung auch ihre Schattenseiten hat. Ein Fragezeichen setze ich, wenn der junge Lehrer bereits seine Drittklässler(!) mit dem iPad "arbeiten" lässt. Seine Begründung: Später würden sie ohnehin alle Informationen im Internet beschaffen, deshalb sei es unnötig, ihnen die Benutzung eines Wörterbuchs beizubringen.

Handlungsbedarf im Schweizer Bildungswesen

Ganz im Gegenteil warnt der Schulpädagoge und frühere PH-Dozent Martin Straumann davor, im Kindergarten und der Unterstufe schon digitale Medien einzusetzen. Denn Kinder brauchen die direkten Lernerfahrungen in der Natur, um zum Beispiel eine Vorstellung von der Grösse oder dem Gewicht eines Tieres zu bekommen. Dies die erste Entgegnung des pädagogischen Praktikers auf die fünf Thesen des Bildungs-Redaktors Hans Fahrländer.

Anmerkung: Für die Mittelstufe und auch teilweise für die älteren Schüler gilt dies ebenso. Ich erinnere mich an meinen Physiklehrer im Gymi (da waren wir etwa 15 Jahre alt), der mit Begeisterung zehnmal einen kleinen Metallgegenstand ein Messgerät hinunterfallen liess und uns damit die immer gleiche Fallgeschwindigkeit im freien Fall demonstriert hat. So etwas bleibt im Gedächtnis haften.

Die weiteren Thesen Fahrländers und die Antworten Straumanns zum Handlungsbedarf im Bildungswesen können hier nur angetippt werden. Die Themen Integration und Chancengleichheit wurden im Newsletter schon häufig thematisiert.

Eine Bemerkung zu den Pisa-Tests: Es ist sicher begrüssenswert, wenn Eltern aus anderen Kulturen Sprachkurse besuchen, wie dies Martin Straumann fordert. Aber die Volksschule hat die Pflicht und Schuldigkeit, allen Kindern in neun Schuljahren die deutsche Sprache beizubringen. Am besten geht dies mit viel Lesen, Vorlesen, Schreiben, strukturiertem Grammatikunterricht, Wortschatzübungen – und mit wöchentlichen Diktaten und Fehlerkorrekturen der Lehrerin. Zu letzterem hat uns die schwedische Sprachwissenschaftlerin Inger Enkvist an einem Diskussionsabend der Starken Volksschule Zürich ihre klaren Forschungsresultate aus Langzeitstudien dargelegt. Ist zwar nicht "modern" und entspricht nicht dem Lehrplan 21, aber in meiner Schulzeit haben alle Mitschüler aus Italien und Spanien in neun Jahren deutsch gelernt.

Zu Bologna trifft Hans Fahrländer den Nagel auf den Kopf: "Eine verschulte Ausbildung ohne Tiefe" konstatiert der Bildungsredaktor, und "Beschäftigungsfähigkeit am Arbeitsmarkt steht heute über allem." Knapp und klar!

Vom frühen Lesenlernen

Eine Studie von Margrit Stamm über Vor- und Nachteile des frühen Lesenlernens kommt zum Schluss, dass Kinder, die aus eigener Motivation schon im Kindergartenalter lesen lernen, in den meisten Fällen einen Vorteil haben. So ging es jedenfalls mir: Meinem älteren Bruder habe ich gespannt bei den Hausaufgaben zugeschaut und beim Frühstück auf der Ovomaltine-Büchse die Buchstaben lesen gelernt. Folge: Ab der 1. Klasse habe ich tonnenweise Bücher gelesen – das war selbstverständlich ein Vorteil. Wenn dagegen die Fünfjährigen im Kindergarten zum Lesenlernen gebracht werden sollen, bringt das, wie Margrit Stamm festgestellt hat, oft keinen dauerhaften Mehrwert. Wie ich von einer Kindergärtnerin weiss, ist es im Gegenteil nicht ratsam, die Kindergartenzeit mit Lesen und Rechnen zu füllen, denn dort gibt es tausend andere wichtige Dinge zu lernen, vom Zeichnen, Singen, Ausschneiden über das gemeinsame Spiel bis zum Erzählen und Zuhören.

Blick zurück in die fatalen britischen Schulreformen der Achtzigerjahre

Auch dieser Newsletter wird durch eine historische Betrachtung von Peter Aebersold abgerundet. Bei den Briten hätten unsere Bildungsexperten das warnende Beispiel vor Augen gehabt – wenn sie diese geöffnet hätten… Die plastische und detaillierte Analyse untauglicher Mathe-Lehrmittel und individualistischer Lehrmethoden wird bei jedem heutigen Lehrer die Alarmglocken läuten lassen. Unwillkürlich werden wir auch an das Desaster mit dem Frühfranzösisch in den Nordwestschweizer Kantonen erinnert, gegen das sich die Baselbieter mit Erfolg gewehrt haben. Ein ermutigendes Vorbild für alle, die Reissleine zu ziehen – lieber früher als zu spät!

Für die Redaktion Starke Volksschule Zürich

Marianne Wüthrich