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Newsletter vom 30.8.2020

Lernprozesse stärker in den Fokus rücken

Baustellen faszinieren kleine Kinder ungemein. Mein dreijähriger Enkel lässt sich kaum von einer Baustelle wegbringen, wenn in einer grossen Baugrube Schaufelbagger an der Arbeit sind und Kräne schwere Lasten heben. Seine Entdeckerfreude nimmt kein Ende, denn immer wieder kann er Dinge beobachten, die ihn ganz in Beschlag nehmen. Diese Faszination des Bauens spiegelt sich auch in den Kinderbüchern, wo Wimmelbücher über die Arbeit auf Baustellen grossen Absatz finden.

Lernen bedeutet überlegtes Aufbauen

Kinder spüren intuitiv, dass das Bauen von existenzieller Bedeutung ist. Beim Blick in die Baugrube wollen sie verstehen, was da abläuft und was entstehen wird. Für sie ist das Bauen durchaus ein Gleichnis für das Neue in ihrem Leben, das sie täglich erleben. In seinem anspruchsvollen Beitrag mit dem Titel «Baustelle Schule» greift Carl Bossard den Vergleich mit dem Bauen auf, um auf anschauliche Weise die grosse Bedeutung der Lernprozesse in der Pädagogik in Erinnerung zu rufen.

Lernen ist ein komplexer Vorgang, bei welchem wie auf einer Baustelle alles richtig ineinandergreifen muss. Schritt für Schritt wird vorgegangen. Nur auf einem soliden Fundament können die Maurer die Backsteinwände errichten. Die Verschalungen der Betondecken werden erst entfernt, wenn der Beton trocken ist. Auch das schulische Lernen ist ein Aufbauen, das einem klaren Plan folgen muss, wenn es gelingen soll.

Erfolgreiches Unterrichten setzt duales Denken voraus

Dabei stellen sich den Lehrpersonen stets zwei grundlegende Fragen, die in jedem Lernprozess von zentraler Bedeutung sind. Auf der einen Seite ist es der Bildungsinhalt, der schulische Stoff, den es zu vermitteln gilt. Diese Inhalte müssen bezüglich des allgemeinen Bildungswerts relevant und für exemplarisches Verstehen geeignet sein. Lehrpersonen sollten den ausgewählten Stoff möglichst durchdrungen haben, damit sie aus dem Vollen schöpfen können. Auf der anderen Seite steht der junge Mensch mit seinen Anlagen, Wünschen und Bildungsinteressen. Die Lehrperson muss mit ihrer Botschaft den Empfänger stets im Blickfeld haben und sich fragen, wie die Kinder den Lernprozess verarbeiten. Wo muss ich als Lehrer behutsam, aber zielgerichtet eingreifen? Wo ist mehr Üben angesagt und wo sind didaktische Wege zu korrigieren?

Das Zusammenspiel der beiden verschiedenen Bereiche führt zu einer spannenden Dynamik in den Lernprozessen. Engagierte Lehrpersonen sind deshalb immer wieder fasziniert, wie Lernprozesse sich bei den Kindern und Jugendlichen entwickeln und wie man das Lernen optimieren kann. Es versteht sich von selbst, dass bei diesem Unterrichtsverständnis der Lehrerberuf weit mehr mit pädagogischer Kunst als mit braver Coachingtätigkeit zur Umsetzung eines vorgegebenen Mammutprogramms zu tun hat.

Die Lektüre unseres Startbeitrags wird Sie nicht enttäuschen. Carl Bossard erklärt Ihnen die Teilschritte von Lernprozessen einleuchtend und stellt alles in einen Gesamtzusammenhang. Sie werden dabei um einige Erkenntnisse reicher.

Wenig erforschte Lernprozesse beim Mythos Gruppenarbeit

In unserem zweiten zentralen Beitrag geht Sekundarlehrer Urs Kalberer der Frage nach, welche Lernprozesse sich in Gruppenarbeiten abspielen. Man merkt, dass die Beobachtungen des Autors auf umfangreichen praktischen Erfahrungen beruhen. Er stellt die vielfältigen Erwartungen, die an den modernen Gruppenunterricht gestellt werden, den effektiven Resultaten des Lernens in Gruppen gegenüber. Der Autor listet eine ganze Reihe von sozialen und kognitiven Kompetenzen auf, die nach verbreiteter Auffassung in der Arbeit im Team schneller erworben können als durch klassische Instruktion. Manche sehen in der Gruppenarbeit gar eine Art didaktisches Breitband-Heilmittel, um alle schulischen Erwartungen abdecken zu können.

Doch der genaue Blick auf teamorientierte Lernprozesse zeigt auf, dass der Zuwachs an Wissen und Können gesamthaft gesehen eher bescheiden ist. Während aktive Gruppenmit­glieder neue Kompetenzen erwerben, machen andere kaum Lernfortschritte. Die Vorstellung, dass selbständiges Lernen und die Entwicklung von Lernstrategien aufgrund häufiger Grup­pen­arbeiten bei vielen Schülern einen Sprung nach vorn machen würden, ist trügerisch. Der Autor sieht klare Grenzen des Konstruktivismus, wenn es um den Erwerb von Grundkompe­tenzen im kognitiven Bereich und beim Erwerb des Fachwissens in den Realien geht.

Regelmässig in den Unterricht eingebaute Gruppenarbeiten sind zweifellos wertvoll für soziale Erfahrungen in Teamarbeit. Sie überfordern aber Lehrpersonen und die meisten Schüler, wenn damit ein Ersatz für die nach wie vor zentrale Lernform der direkten Instruktion angestrebt wird. Mit seinen praxisnahen Erkenntnissen bringt der Autor das umstrittene Dogma von der Überlegenheit des selbstbestimmten Lernens in der Volksschule ganz schön ins Wanken.

Genormte Schnelltests können Zeugnisse nicht ersetzen

Wieweit können genormte Lerntests den Resultaten individueller Lernprozesse von Jugendlichen gerecht werden? Diese Frage kann man sich stellen, wenn man hört, dass jährlich Tausende von Schülerinnen und Schülern beim Multitest scheitern. Der kostenpflichtige Test nimmt für sich in Anspruch, in weniger als einem Halbtag erfassen zu können, wo das schulische Potenzial eines Jugendlichen liegt.

Würde der Test nur verwendet, um ein ergänzendes Bild der schulischen Leistungen neben den Schulzeugnissen zu geben, wäre dagegen nichts einzuwenden. Doch die Entwicklung geht in eine völlig falsche Richtung. Viele Betriebe und schulische Einrichtungen erachten den fragwürdigen Multicheck leider als aussagekräftiger als Zeugnisnoten. Zu Recht wird deshalb im Beitrag von Flavio Razzino der verbreitete Glaube an die verlässliche Aussagekraft des Multicheck-Schnelltests kritisiert.

Weitere Beiträge zum aktuellen Schulgeschehen und zwei Perlen als Abschluss

Wie immer enthält unser Newsletter neben einem Schwerpunktthema eine Auswahl der wichtigsten Beiträge über das schulpolitische Geschehen der letzten beiden Wochen. So wird im Zusammenhang mit dem Fernunterricht die Frage der Digitalisierung erneut aufgerollt und diskutiert. Eine Historikerin erinnert in einem lesenswerten Interview, dass unsere Volksschule mit dem Weg der kontinuierlichen Erneuerungen anstelle stürmischer Veränderungen gut gefahren ist. Ein Dauerbrenner in den Gazetten ist die Reform des Gymnasiums mitsamt den viel Diskussionsstoff bietenden Aufnahmeprüfungen. In unserem Leserbriefforum spiegelt sich diese Thematik. Dazu kommt ein engagierter Leserbrief einer ehemaligen Schulpflegerin, die sich für eine Stärkung der vom Volk gewählten Schulpflege einsetzt.

Den Abschluss unseres Newsletters bilden zwei Beiträge, die nochmals Grundsätzliches über Schule und Unterricht aufgreifen. In einem NZZ-Gastkommentar legt Klaus Zierer mit starken Argumenten eine Lanze für einen lebendigen Präsenzunterricht ein. Und im abschliessenden NZZ-Interview kommt mit Dieter Rüttimann ein erfahrener Pädagoge zu Wort. Seine Aussagen regen zum Denken an, auch wenn manche recht umstritten sein dürften.

Doch genau diese Art des Dialogs suchen wir. Wir wünschen Ihnen viel Gewinn bei der Lektüre.

Für die Redaktion Starke Volksschule Zürich

Hanspeter Amstutz