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Newsletter vom 13.9.2020

Projekt- oder Klassenunterricht – wie behält der Lehrer das Ganze im Blick?

In diesem Newsletter finden Sie Artikel zu den Schwierigkeiten der Schule in Corona-Zeiten und zum Dauerbrenner «Problemkinder in den Regelklassen». Letzteres lässt sich weder mit sonderpädagogischen Kursen für die Klassenlehrer noch mit immer mehr Förderprogrammen für Kinder mit «besonderem Bedarf» lösen, darauf wurde hier schon öfter hingewiesen. Am besten für alle Beteiligten wäre die Wiedererrichtung von Kleinklassen, deren Ziel es ist, die Kinder so zu fördern, dass sie später im wahrsten Sinne des Wortes in die Regelklasse «integriert» werden können. Dies war zum Beispiel in den früheren Sonderklassen A der Fall, wo die Schulanfänger mit Lernproblemen sich den Erstklassstoff in zwei Jahren aneignen und danach fast alle in die 2. Regelklasse übertreten konnten. Was nützt es dem Kind, nicht mit dem «Stigma» des Kleinklassenschülers behaftet zu sein, vor dem Tagi-Kommentator Daniel Schneebeli warnt, stattdessen aber seine Schulzeit in einer Klasse abzusitzen, wo es täglich erleben muss, dass es nur Bruchstücke versteht und den Anschluss nicht wirklich findet?

Gretchenfrage: Was ist pädagogisch sinnvoll?

Ein heisses Eisen ist zurzeit wieder einmal die Frage, ob und in welchem Mass der Einsatz von Projekt- oder Gruppenunterricht gut sei für die Schüler – ein wenig vereinfacht ausgedrückt. Carl Bossard bringt den Kern des Lehrens auch in seinem neuesten Beitrag in einfachen Worten auf den Punkt: Wesentlich ist, dass der Lehrer «das Ganze im Blick hat», nämlich die Bildung der ihm anvertrauten Jugend. Ob er bei den Teilen ansetzt oder beim Ganzen, entscheidet er immer wieder neu, oder es ergibt sich aus dem Lerngeschehen in der Klasse. In Bezug auf Klassen- und Projektunterricht: Was die Lehrerin mit allen Schülern gemeinsam erarbeitet und wo diese ein Thema selbständig erkunden, muss davon abhängen, was pädagogisch sinnvoll ist. «Selbständiges» Lernen aus Prinzip oder weil es im Lehrplan steht? Lieber nicht. Aber wenn die Schüler Teile beisteuern und mit Hilfe des Lehrers zu einem Ganzen zusammenfügen, kann dies manchmal zum besseren Verständnis der Sache führen.

Ein missglücktes Beispiel aus meinen Erfahrungen als Berufsschullehrerin: Polymech-Klasse im 2. Lehrjahr, Thema: Kennenlernen der politischen Parteien. Nach einer Einführung im Klassenunterricht und dem gemeinsamen Studium von Unterlagen zu den einzelnen Parteien legten wir gemeinsam einige Themen fest (Familie, Militär usw.). Jede Gruppe übernahm eine Partei und suchte Antworten dazu. Was sie mit Freude und gekonnt hinkriegten, waren ansprechende Powerpoint-Präsentationen. Das Wesentliche dagegen, die Inhalte, übernahmen die meisten 1:1 aus dem Internet. Wer nicht zu Hause am Familientisch politische Diskussionen erlebt hat oder wer keine Zeitung liest (also die grosse Mehrheit), verstand die Standpunkte der ausgewählten Partei nicht wirklich, und schon gar nicht war der Vergleich mit anderen Parteien möglich. Fazit: Das Zusammensetzen vieler Einzelteile ergibt nicht automatisch ein Ganzes. Meine Konsequenz: Ich schlug der Klasse die wöchentliche gemeinsame Lektüre einer Regionalzeitung vor, fokussiert auf die Aktivitäten und Stellungnahmen verschiedener Parteien. So «führten die Teile schrittweise zu einem Ganzen», wie Carl Bossard es beschreibt. Besonders erfreulich war, wenn einzelne Schüler von sich aus begannen, Zeitung oder Online-News zu lesen und politische Ereignisse aus dem In- und Ausland einzubringen. Damit schliesst sich der Kreis: Durch die gemeinsame Lektüre und Diskussion wird die selbständige Aktivität Einzelner angeregt.

Die Projektarbeit auf Berufsschulstufe par excellence: Die VA (Vertiefungsarbeit)

Die VA ist eine Erfindung aus den Chefetagen der Maschinenindustrie, damit die Jugendlichen lernen sollen, ein Dossier für einen Kunden zusammenzustellen und zu präsentieren. Erste Anmerkung: Inklusive aller Vorübungen, Einführungen, Themenwahl, Einzelbesprechungen, Probe-VA und Präsentationen gehen für die VA mindestens 1 1/4 Jahre der drei oder vier Jahre Unterrichtszeit im Bereich Allgemeinbildung (drei Lektionen pro Woche) drauf. Entsprechend dünner ist die Allgemeinbildung in vielen anderen Sachthemen und Lebensfragen geworden. Zweite Anmerkung: Obwohl die Berufsschüler oft ein Stück weit mehr auf eigenen Beinen stehen als viele gleichaltrige Vollzeitschüler, sind lange nicht alle in der Lage, ihr Lernen selbständig zu planen.

Meinen Klassen stellte ich es meistens frei, ihre VA allein oder zu zweit zu schreiben. Im Gegensatz zu einigen anderen Schulen war bei uns die Themenwahl nicht frei, sondern es wurde ein Rahmenthema vorgegeben. Und anders als mancher Kollege beharrte ich darauf, dass die Schüler Themen wählten, über die sie nicht ohnehin schon alles wussten (zum Beispiel den eigenen Fussballclub mit einem Interview mit dem Trainer!). Lernstarke Schüler erreichten gute Resultate, ob allein oder zu zweit, schwächere Lerner konnten etwas Befriedigendes hinbringen, wenn sie sich von mir anleiten liessen. Dabei mischte ich mich – übrigens auch bei anderen «selbständigen» Arbeiten – oft weit mehr ein, als eigentlich «zulässig». Am schlimmsten war es mitanzusehen, wenn Jugendliche die selbständige Arbeitszeit (in der Regel 7 mal 3 Lektionen) mehrheitlich mit Googeln und dem Layout der Titelseite vertrödelten, trotz wöchentlichem Arbeitsprotokoll, bewerteten Zwischenbesprechungen mit vorgeschriebenen Teilzielen und Hilfe-Angeboten von meiner Seite oder von Mitschülern. Abgesehen von vereinzelten Versuchen zu «bschisse» wurden aber die allermeisten VAs pünktlich abgeliefert und erhielten genügende bis sehr gute Noten. Besonders erfreulich waren Arbeitsverläufe, wenn ein Schüler so richtig seine Persönlichkeit entfalten konnte und erst noch Freude am Schreiben bekam.

Rückblickend stelle ich trotzdem fest, dass der betriebene Aufwand für die VA in der Regel unverhältnismässig zum Ertrag ist. Was hätten wir in den vielen ABU-Lektionen alles miteinander lernen können!

Nachtrag: Was in der aktuellen Lehrerbildung unter «Gruppenarbeit» verstanden wird

Auch wenn die Methodendiskussion unter uns erfahrenen Lehrern spannend ist, müssen wir uns im Klaren sein: Was in den heutigen Volksschulen unter «Gruppenarbeit» läuft, ist zum Teil jämmerlich. So berichtete mir eine Fünftklässlerin aus ihrer Klasse in der Stadt Zürich: Die Kinder sitzen zu dritt oder viert um einen Tisch, jedes liest für sich dasselbe Blatt zu einem Sachthema und beantwortet vier Fragen dazu. Dann werden die Blätter ausgetauscht und gegenseitig schriftliches Feedback gegeben, und zwar eine positive Bemerkung und eine Kritik. A. erhielt von ihrem Mitschüler das Feedback: «Du hast es gut gemacht. Zur 3. Frage solltest du das und das beachten.» Aus dem Wortlaut wurde ersichtlich, dass der Mitschüler die 3. Frage selbst gar nicht verstanden hatte. Auf meine Frage, ob die Lehrerin die Blätter korrigiert habe, antwortete A.: «Nein, sie hat unsere Blätter gar nicht angeschaut.» Derlei «Gruppenarbeiten» fanden in dieser Klasse häufig statt.

Hier gibt es noch viel zu tun! Der Rückblick von Peter Aebersold auf die desaströsen britischen Schulreformen im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts kann und muss uns ein Mahnmal sein.

Marianne Wüthrich