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Newsletter vom 29.3.2020

Fernunterricht ersetzt die Schule nicht

Weil dieser Titel besonders gut ausdrückt, worum es in den heutigen Schulen und auch in diesem Newsletter im Kern geht, erlaube ich mir, ihn von Carl Bossard zu borgen. Gerade in Zeiten, wo die Kinder und Jugendlichen gezwungenermassen zu Hause lernen müssen, zeigt sich das grundsätzliche Problem der voll digitalisierten und selbstorganisierten Schule deutlich: Sie entspricht nicht dem, was der junge Mensch braucht, um sich geistig, seelisch und körperlich zu einem vielseitig gebildeten, innerlich gefestigten und für das Leben gerüsteten Erwachsenen entwickeln zu können. Lernen ist an die Beziehung des Kindes zum Lehrer gebunden; Auftrag der Schule ist es, der Jugend Bildung zu vermitteln – von Mensch zu Mensch. Daran erinnern in diesem Newsletter Carl Bossard, Yasmine und Marc Bourgeois, Hanspeter Amstutz und Erich Aschwanden, der auch die Wichtigkeit der Schule und des Klassengeschehens für die soziale Entwicklung der Kinder aufgreift.

Vermisste Geborgenheit des gemeinsamen Klassenunterrichts

Diese Grundgesetze des Lernens belegt der eindrückliche Artikel «Das abstürzende Klassenzimmer» mit zahlreichen wissenschaftlichen Befunden und den dazugehörenden Beobachtungen von Pädagogen im Schulzimmer. Der ursprüngliche Bericht der Ameri­kanerin Natalie Wexler, den wir, übersetzt von Urs Kalberer, im Newsletter vom 2. Februar abgedruckt haben, wird hier auf die Digitalisierung «im Eiltempo» an den deutschen Schulen hinübergedacht und gilt selbstverständlich ebenso für die Schweizer Schulen.

Damit sollen die positiven Seiten der elektronischen Hilfsmittel in keiner Weise verneint werden. Zurzeit sind wir besonders froh über die vielen technologischen Möglichkeiten. Aber, wie Hanspeter Amstutz in seinen Gedanken eines Grossvaters (und erfahrenen Lehrers) zur «Schule im Corona-Modus» richtig festhält: Wer glaubt, die schulische Entwicklung der Schüler sei ebenso gut über digitale Kanäle möglich wie im Klassen­zimmer, versteht wenig vom Lernen und Lehren. Einen «digitalen Schub» verspricht sich ZLV-Präsident Christian Hugi von der aktuellen Situation – da könnte er sich schwer täuschen. So weist Pädagoge Amstutz in seinem zweiten sehr lesenswerten Artikel darauf hin, dass auch noch so gute Präsentationen und Lernsoftware die unabdingbare Lehrer-Schüler-Beziehung nicht ersetzen können. Auch Hugi merkt an, dass seine Schüler schon nach wenigen Tagen ihre Lehrer vermisst haben.

Lehrerinnen und Lehrer leisten grossen Einsatz, um mit den Schülern in Kontakt zu bleiben

Es ist deshalb kein Zufall, dass Lehrer im ganzen Land täglich oder mehrmals pro Woche Videokonferenzen mit ihrer Klasse einrichten, um eine Situation zu schaffen, die dem Klassenunterricht so nahe als möglich kommt. Es ist kein digitaler «Schub», der den Schülern dann wieder Schwung und Mut zum Weiterlernen gibt, sondern das Erlebnis, sich mit der Lehrerin und den Mitschülern wenigstens auf dem Bildschirm treffen und seine Fragen und Erkenntnisse diskutieren und klären zu können. Überhaupt ist es beeindru­ckend, wie die Lehrerinnen und Lehrer im ganzen Land ihr Bestes tun und viel Zeit und persönliches Engagement einsetzen, um das Lernen der ihnen anvertrauten Jugend so gut als möglich aufrechtzuerhalten.

Verfehlte Abwertung der aktuellen Bemühungen um einen Notunterricht

Da kommt der Artikel von René Donzé in der NZZ am Sonntag teilweise schon etwas locker vom Hocker daher. Schon der Titel «Tschüss Schulhaus», und dann die Darstel­lung, als ob die Lehrer nicht wüssten, was sie nun mit ihren Schülern anfangen sollten… Wenig hilfreich ist auch die von ihm zitierte Aussage der Zürcher Bildungsdirektorin, nach der Schliessung der Schulen würden «Tage des Chaos» folgen. Damit redet Silvia Steiner die grosse und bewundernswerte Einsatzbereitschaft der Zürcher Lehrerschaft und ihre vielen kreativen Einfälle schon im Voraus klein – eine schwache Leistung. In dieselbe Schublade gehört die entmutigende Idee, alle Kinder im Sommer eine Klasse repetieren zu lassen. Besonders bedenklich ist, dass sie von Sarah Knüsel kommt, der Verbands­präsi­dentin der Zürcher Schulleitungen. («Schüler werden im Sommer nicht so weit sein»)

Fernunterricht deckt die die eklatanten Schwächen des Integrationsmodells auf

Wie leistungsschwächere Schüler und besonders Kinder aus Problemfamilien und von Eltern mit wenig Deutschkenntnissen über diese Zeit betreut werden können, wird von mehreren Autoren aufgeworfen und ist tatsächlich ein grosses Problem, das sehr ernst­genommen werden muss. Der Erfahrungsbericht der Zürcher Primarlehrerin und Gemeinderätin Yasmine Bourgeois eröffnet Ansätze für Lösungen, die auch über die Corona-Krise hinausreichen könnten. In der jetzigen Lage zeigt sich nämlich, dass der Fernunterricht an seine Grenzen kommt, weil in den Integrationsklassen viele Kinder neben der Klassenlehrerin verschiedene weitere Bezugspersonen haben. Diese erteilen den einzelnen Schülerinnen zusätzliche Aufträge, so dass die Lehrerin keinen Überblick behält, wer wo steht und welche Unterstützung benötigt.

Heilpädagogen stehen in einer besonderen Verantwortung

Die Lösung liegt gemäss Yasmine Bourgeois auf der Hand: Die Kinder mit «besonderen Bedürfnissen» müssen von den Heilpädagogen in voller Verantwortung übernommen werden, während die Klassenlehrerin sich auf die Regelschüler konzentrieren kann (mit ergänzenden Lösungen für die Kinder, die Förderlehrer in Psychomotorik, Logopädie oder DaZ haben). Nur so besteht Gewähr, dass jedes Kind auch heute persönlich und nach seinen Bedürfnissen genügend abgestützt ist, um beim Lernen voranzukommen.

Kantonsrat und Unternehmer Marc Bourgeois skizziert als Mitglied der Kommission für Bildung und Kultur, wie die dringenden Anliegen seiner Frau (und sicher vieler anderer Lehrer) konkret umgesetzt werden könnten,

Zur Abrundung des Newsletters legt der ehemalige Lehrlingsausbildner und Bezirks­schulpfleger Peter Aebersold seine Erfahrungen mit der Logopädie dar, die im Gegensatz zur Ideologie der undifferenzierten Integration aller Kinder in Regelklassen sehr hohe Therapieerfolge bei sprachauffälligen Schülern erzielt und damit eine echte integrierende Wirksamkeit aufweist.

Die Redaktion des Zürcher Newsletters wünscht Ihnen eine spannende Lektüre.

Marianne Wüthrich

Inhalt

  • Vorwort: Fernunterricht ersetzt die Schule nicht
    27.3.2020, Marianne Wüthrich
  • Fernunterricht ersetzt die Schule nicht
    Journal21, 21.3.2020, Carl Bossard
  • Das abstürzende Klassenzimmer
    Technology Review, April 2020, von Nike Heinen und Natalie Wexler
  • Tschüss Schulhaus
    NZZ am Sonntag 22.3.2020, Leben mit Corona, René Donzé
  • «Schüler werden im Sommer nicht so weit sein»
    20Minuten 23.3.2020
  • Ersatz des Klassenunterrichts nur als Notbehelf
    Der Zürcher Bote 27.3.2020, Leserbrief von Marianne Wüthrich
  • Fazit und Erfahrungen aus der ersten Woche Fernlernen
    26.3.2020, Yasmine Bourgeois
  • Massnahmen für ein qualitativ gutes Fernlernen
    26.3.202, Marc Bourgeois
  • Schule im Corona-Modus
    Der Zürcher Bote 27.3.2020, Hanspeter Amstutz
  • Schwächere Schüler dürfen nicht leiden
    NZZ 21.3.2020 Meinung & Debatte, Erich Aschwanden
  • Überrollt uns nun eine unreflektierte Digitalisierungswelle?
    23.3.2020 Hanspeter Amstutz
  • Logopädie – erfolgreich integrierende Therapie
    Condorcet Bildungsblog 18. März 2020, Gastbeitrag von Peter Aebersold