Schulnahe Realpolitiker reden Klartext
Der Realitätsverlust in der Bildungspolitik scheint seinen Zenit überschritten zu haben. Nach dem Nidwaldner Erziehungsdirektor Res Schmid doppelt nun auch seine Aargauer Kollegin Martina Bircher in einem bemerkenswerten Interview in der NZZ über die langjährigen Baustellen der Volksschule nach. Die zupackende Bildungsdirektorin nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um diese Schwachstellen geht. Sie hält nichts vom Frühfranzösisch, erachtet den Einsatz von Tablets in der Primarschule als Fehlinvestition und fordert ein sofortiges Handyverbot in der Volksschule. Sie ist keine Taktiererin, wenn es um den Abbruch von Reformen geht, die schon seit Jahren erfolglos vor sich herdümpeln. Ihre pragmatische und kostenbewusste Haltung zeigt sich deutlich bei der schulischen Integration. Sie erachtet es als notwendig, bei Bedarf Kleinklassen zu führen, aber auch Lösungen mit Schulinseln für weniger belastende Fälle anzubieten.
Bildungstheoretiker haben schon mehr als genug Schaden angerichtet
In ungewohnt scharfer Weise kritisiert sie die Einstellungen elitärer Bildungstheoretiker, wenn es um eigentliche Erziehungsfragen geht. Statt selbstorganisiert ein neues Thema zu erarbeiten, profitierten die meisten Schüler weit mehr von sorgfältigen Anleitungen durch kompetente Lehrkräfte. Ein gut strukturierter gemeinsamer Klassenunterricht sei effizienter und stärke den sozialen Zusammenhalt. Auf der Oberstufe brauche es leistungsgetrennte Abteilungen, um den unterschiedlichen Begabungen wirklich gerecht werden zu können. Von der heute weit verbreiteten Gleichmacherei hält die Bildungsdirektorin gar nichts.
In der dogmatischen Einstellung mancher Integrationsbefürworter sieht sie eine eigentliche Blockadehaltung, die vernünftige Mittelwege verhindert. Sie gibt zu bedenken, dass heute mehr Schüler ausgegrenzt würden, weil sie infolge des Fehlens von Kleinklassen in regionalen Sonderschulheimen untergebracht werden müssten. Diese Einrichtungen seien zurzeit überbelegt und ein Beleg, dass das aktuelle Integrationsmodell am Anschlag sei.
Konzentration auf eine einzige Frühfremdsprache
Im zweiten Interview äussert sich Erziehungsdirektor Schmid eingehend zur Mehrsprachendidaktik der Primarschule. Für ihn ist klar, dass man sich auf eine einzige frühe Fremdsprache konzentrieren muss, um die Kinder nicht zu überfordern. Obwohl er selber früher Testpilot war, favorisiert er nicht das beliebte Englisch, sondern Französisch als erste Fremdsprache. Englisch könnten die Schüler sehr rasch in der Oberstufe lernen. Das dürfte noch für einigen Diskussionsstoff sorgen, wie die Pressetexte zum Französischunterricht eindrücklich zeigen.
Die Interviews decken auf, dass es in der Bildungspolitik den klaren Blick fürs Wesentliche braucht, um den im Dreck steckenden Volksschulkarren wieder in Bewegung zu setzen. Die beiden Regierungsmitglieder haben genug von den vielen Bildungsversprechungen, die allzu oft nicht eingehalten wurden. Nach dem gescheiterten Mehrsprachenkonzept in der Primarschule, nach den miserablen Resultaten vieler Schulabgänger im Deutsch und nach den offensichtlich schwachen Kenntnissen in der Allgemeinbildung geben sie entschlossen Gegensteuer.
Die Bildungsrevolutionäre von einst sind zu Blockadebauern geworden
Doch die zupackenden Pragmatiker stossen noch immer auf heftigen Widerstand der unterdessen etablierten Bildungsrevolutionäre aus den Reformzeiten. Diese wollen nichts sehen und nichts hören. Sie betreiben entweder Schönfärberei im grossen Stil oder versteifen sich auf unsinnige Durchhalteparolen. Manche Sprachendidaktiker wollen partout nicht einsehen, dass sie mit dem Konzept der Sprachbäder in den Fremdsprachen nicht nur unter den schulisch schwächeren Kindern grossen Schaden angerichtet haben. Sie sind mitverantwortlich für das Debakel beim Frühfranzösisch und sie haben Politiker in der falschen Annahme bestärkt, frühes Sprachenlernen gelinge bereits mit wenigen Lektionen. Mit der Verteidigung des Frühsprachenkonzepts sind sie längst zu Bremsern bei der Weiterentwicklung unserer Volksschule geworden.
Dass sich das vorgezogene Sprachenlernen sogar negativ auf die Vorkenntnisse der ins Gymnasium eintretenden Schüler ausgewirkt hat, ist eine weitere böse Überraschung. In einem NZZ-Interview beklagt eine Französischlehrerin, dass die Eintretenden deutlich schlechter im Französisch sind als noch vor der Einführung des Frühenglisch. Diese Aussage gibt wirklich zu denken.
Besser Deutsch lernen als Herkulesaufgabe der Volksschule
Um die Volksschule wieder auf Kurs zu bringen, braucht es mutige Schritte. An erster Stelle steht dabei die Herkulesaufgabe, die Deutschkenntnisse unserer Schulabgänger stark zu verbessern. Richtig Deutsch lernen ist ein umfassender Bildungsauftrag, der nicht nur so nebenbei stattfinden kann. Es braucht eine durchdachte Lernstrategie, um Erfolg zu haben. Mit ein paar zusätzlichen Deutschlektionen allein ist es nicht getan.
Mehr systematisches Deutschtraining, mehr narrativer Geschichtsunterricht, mehr eigenes Schreiben von Texten, mehr Zeit für Poesie und Jugendliteratur, all das muss wieder im Zentrum der Volksschule stehen. Zudem kommt den Realienfächern grosse Bedeutung zu. Wer über ein gutes Allgemeinwissen mit präzisem Wortschatz verfügt, hat grosse Vorteile beim Verstehen vieler Texte. Schüler können an Bekanntes andocken, da sie mithilfe des Vorwissens Neues einordnen und sich so rascher zurechtfinden können.
Das verzettelte Fremdsprachenlernen hingegen führt nicht zum erhofften Effekt des leichten Andockens. Wer in keiner Sprache zuhause ist, dem fehlen die starken inneren Bilder, von denen aus der Wissenskern erfolgreich erweitert werden kann. Statt mehr Freude am sprachlichen Ausdruck zu gewinnen, fühlen sich die meisten Schüler beim Switchen in drei oder noch mehr Sprachen zutiefst verunsichert.
Falls Sie noch Zweifel über den richtigen Weg in der Sprachenfrage haben, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Besuchen Sie eine fünfte Klasse und informieren Sie sich über den aktuellen Fremdsprachen- und Deutschunterricht. Erlauben Sie sich zudem einen Blick in die Deutschhefte, wo Sie allenfalls auf aufschlussreiche Aufsätze stossen können. Sie werden die Forderung erfahrener Lehrpersonen nach einer Konzentration aufs Wesentliche danach bestens verstehen.
Es kommt Bewegung in die erstarrte Bildungspolitik
Die Auseinandersetzung zwischen den abgewirtschafteten Bildungsrevolutionären von einst und den tatkräftigen Pragmatikern unserer Tage ist in vollem Gang. Motionen zur Abschaffung des Frühfranzösisch, Vorstösse zur Wiedereinführung von Kleinklassen und zur Stärkung des Geschichtsunterrichts sind in mehreren kantonalen Parlamenten in Behandlung. Es weht ein frischer Wind der didaktischen Vernunft durch die Schweizer Bildungslandschaft. Unsere aktuelle Textsammlung ist ein Abbild dieser farbigen Auseinandersetzung. Wir freuen uns, Ihnen diesen Mut machenden Newsletter präsentieren zu dürfen.
Hanspeter Amstutz
