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Newsletter vom 29. Juni 2025

Über Mythen, Märchen und Jammern auf hohem Niveau

Über Mythen, Märchen und Jammern auf hohem Niveau

Laut Wikipedia ist das aus dem Griechischen stammende Wort «Mythos» in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Erzählung, die natürliche oder soziale Phänomene erklären oder veranschaulichen soll. An und für sich nichts Verwerfliches, solange die «Moral von der Geschicht» im Fokus bleibt. In den späten 60er Jahren wurden aber die Mythen ihrer Moral entkleidet und zurück blieben lediglich «Märchengeschichten». Carl Bossard erläutert: «Mythen wurden für irrelevant erklärt und die Narrative guter Geschichten amputiert.» Die Ironie: In den heutigen Mythen ist nicht die Geschichte, sondern ihre Veranschaulichung ein Märchen – also das, was sie uns vermitteln und glauben machen wollen. Einige dieser modernen «Märchen-Mythen» finden sich leider auch in der Bildungswelt.

In dieser Newsletter-Ausgabe wird gleich mit mehreren Märchen aus der Bildungswelt aufgeräumt. In seinem Kommentar zum Essay «Die Pädagogik der Privilegierten» von Roland Reichenbach entlarvt Carl Bossard das Märchenhafte hinter den Begriffen wie «Chancengerechtigkeit» oder «Individualisierung». Der augenwischende Schleier um das Narrativ wird entkleidet – zurück bzw. darunter bleibt die nackte Tatsache. Denn die angestrebte Chancengerechtigkeit an den Schulen führt in der Realität zu einer Gleichmacherei, die Individualisierung zu einer Isolierung zwischen Schüler und Lehrer. Leiden darunter tun sowohl die lernschwächeren wie auch -stärkeren Schulkinder.

Doch auch die Lehrpersonen leiden. Der Artikel von Niklaus Gerber «Innere Kündigung» gibt einen traurigen, aber wichtigen Einblick in den schwierigen Berufsalltag der Kronjuwelen unseres Bildungssystems: der langjährigen und erfahrenen Lehrpersonen. Sie sind die Veteranen an der Bildungsfront. Ihre innere Resignation darf nicht mehr bloss aufhorchen lassen – sie muss zu einem Aufschrei in der Gesellschaft führen. Die Salve der Kritik ist breit, jedoch kein Schuss ins Blaue. Sie richtet sich gezielt an die Adresse der Politik, der Schulbehörden, der Schulleitungen und nicht zuletzt an die Kinder und deren Eltern.

Auf erfrischende Art entzaubert der Max-Planck-Forscher Michael Skeide in seinem Interview die geglaubten Märchen über Frühförderung und Transferlernen. Er warnt: «Wenn Eltern versuchen, alles Mögliche zu fördern, kann das überfordern.» Hier lässt sich der Kreis zur Kritik der Lehrpersonen an die Eltern schliessen. Denn es gibt eine Art der Frühförderung, die funktioniert und später alle Beteiligten vor einer Überforderung bewahrt. Sie nennt sich «Erziehung». Klar, sie ist mit viel Aufwand, Zeit und Energie verbunden. Dafür ist sie aber kostenlos und zahlt sich mittel- und langfristig dennoch aus. Der einzige Haken: Für diese Art von Frühförderung klingeln weder beim Staat noch in der Privatwirtschaft die Kassen. Ist das vielleicht der Grund, weshalb die Erziehung immer mehr in den Hintergrund verdrängt wird? An einer starken Volksschule und nicht zuletzt funktionierenden Gesellschaft führt aber kein Weg vorbei. Denn wie der Schriftsteller Jeremias Gotthelf sagte: «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.»

Der alten Leier über die Geschlechter- und Noten-Diskriminierung scheinen die Strophen wohl nie auszugehen. Mal trifft es die Mädchen, mal die Buben. Für mich in den ernsthaften Zeiten des Lehrermangels – lesen Sie hierzu den letzten Artikel – eher ein «Jammern auf hohem Niveau». Des Lamentierens ebenfalls bemächtigt, pochen einige Jugendliche in der Stadt Zürich auf ihr «Recht auf Freizeit» und dass der morgendliche Unterricht erst ab 8:30 Uhr erfolgen soll. Klar, Frühaufstehen mag nicht allen eine Freude zu bereiten. Doch vermisse ich in dieser politischen Debatte die bescheidene Rückfrage, wann diese Jugendlichen jeweils zu Bett gehen. Und wie viele Stunden pro Tag sie an ihren Handys verbringen. Über Kausalitäten sollten diese Jugendliche schon einmal im Unterricht gehört haben. Vielleicht fanden diese Lektionen jedoch in den frühen Morgenstunden statt…

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!

Timotheus Bruderer

PS: Der nächste Newsletter folgt am 24. August. Das Redaktionsteam wünscht eine erholsame Sommerzeit!