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Newsletter vom 1. Juni 2025

Lieber spät als nie: EDK stellt Sprachdefizite bei Schweizer Schulabgängern fest

Lieber spät als nie: EDK stellt Sprachdefizite bei Schweizer Schulabgängern fest

Vor zwei Jahren haben sich die Schweizer Bildungsdirektoren aufgerafft, um die sogenannten Grundkompetenzen der Schüler im letzten Schuljahr der Volksschule zu überprüfen. Allerdings nur in der Schulsprache (Lesen und Orthografie) sowie in den Fremdsprachen (Hör- und Leseverständnis). Die Prüfung der Schreibfähigkeit beschränkte man auf die Rechtschreibung – was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss…

Wie nicht anders zu erwarten: Resultate miserabel

«Eigentlich wissen wir es längst», schreibt Carl Bossard in seinem klugen Artikel über die «bildungspolitischen Schlafwandler»: «Es steht nicht gut um die Sprachenkenntnisse der Schülerinnen und Schüler in der Schweiz.»

Deutsch Lesen und Rechtschreibung: Hälfte der Realschüler erreicht Grundanforderungen nicht
Ich will Sie nicht mit Statistiken langweilen, aber ein Blick in den ÜGK-Bericht (siehe Links zur EDK-Medienmitteilung) lohnt sich. Die veröffentlichten Durchschnittszahlen zu den Deutschkenntnissen der Deutschschweizer Schüler sind nämlich nur vordergründig relativ hoch: 80 % der Schüler, dargestellt in imposanten Diagrammen, erreichen im 9. Schuljahr die Grundkompetenzen. In Wirklichkeit sinkt dieses Ergebnis in sich zusammen, wenn man einbezieht, dass die Tests nicht nur in Real- und Sekundarschulen, sondern auch in Progymnasien beziehungsweise Langzeitgymnasien durchgeführt wurden. Logischerweise drücken die Gymischüler den Durchschnitt hinauf. Für den Kanton Zürich: 25 % der Getesteten waren Gymischülerinnen! Fast 100 % davon erreichten die geprüften Grundkompetenzen (Bericht, Seite 94 und 39). Dies spricht übrigens für eher tiefe Anforderungen, weil die Gymi-Schüler bekanntlich auch nicht alle sattelfest sind in der Orthografie. Die Zürcher Gymischüler waren zudem seit dem 7. Schuljahr nicht mehr in der Volksschule. Dass sie zwei Jahre später die Grundanforderungen erfüllen, sagt also wenig aus über die Qualität der Volksschule.

Im ÜGK-Bericht findet man entsprechend weniger schöne Diagramme nach Schultypen, mit der Erläuterung der EDK: «Es ist festzustellen, dass beim Schultyp mit erweiterten Anforderungen und insbesondere beim Schultyp mit progymnasialem Unterricht die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler die Grundkompetenzen erreicht, es beim Schultyp mit Grundanforderungen in manchen Kantonen jedoch weniger als die Hälfte ist.» (Seite 38/39). Zum Beispiel im Kanton Zürich verlassen 49 % der Realschüler die Volksschule, ohne die Anforderungen im Leseverständnis zu erfüllen.

Französisch Lesen und Hören: Ergebnisse zum Teil noch schlechter als gemeldet
Wie die Medien berichten, verstehen nur rund 50 % der Jugendlichen nach fünf Jahren Französisch einfache Sätze. Das ist schon schlimm genug. Aber auch diese Werte werden für viele Kantone nach unten nivelliert, denn in den zweisprachigen Kantonen Freiburg und Wallis sowie im Tessin, wo die Realität des Alltags ein Minimum an Französischkenntnissen als Fremdsprache einfordert, sind die Ergebnisse der Schüler signifikant höher und verbessern damit den Durchschnittswert. Ausserdem drücken auch hier die Gymnasiasten den Durchschnitt stark nach oben.

Tatsache ist: In der Realschule liegen die Prozentwerte in den anderen Deutschschweizer Kantonen im 10er oder 20er Bereich(!), in der Sek in einigen Kantonen unter 50 %. (Seite 41/42 und 44/45)

EDK muss endlich die Konsequenzen ziehen

Zurück zum Artikel von Carl Bossard. Wie wir es von ihm gewohnt sind, nennt er die Ursachen der Misere, nämlich die pädagogisch nicht vertretbaren Schulreformen der letzten Jahrzehnte (falsches Konzept des Lehrplan 21, Integrationsklassen für alle als Verhinderer von konzentriertem Lernen, SOL und Coaching statt geführtem Unterricht, Bildungsbürokratie bestimmt in den Schulen). Sein Fazit: «Es ist Zeit aufzuwachen.» Schön wär's!

Denn die EDK spielt die ungenügenden Resultate in der Schulsprache herunter, um nicht zugeben zu müssen, dass Harmos und Lehrplan 21 längst gescheitert sind. Die Resultate würden «zeigen, dass die Harmonisierung unter den Kantonen, die mit den gemeinsamen Grundkompetenzen und den sprachregionalen Lehrplänen angestrebt wird, insgesamt recht gut voranschreitet», behauptet sie doch tatsächlich in ihrer Medienmitteilung. Das Fach Französisch will die EDK als Folge der schlechten Ergebnisse nicht etwa in die Oberstufe verschieben. Vielmehr sollen weitere Steuermillionen in die «Prüfung von Massnahmen» gesteckt werden, «um mehr Schülerinnen und Schülern das Erreichen der Grundkompetenzen zu ermöglichen.» Hans-Peter Köhli (Leserbrief NZZ) und Alain Pichard (Condorcet) ziehen andere Schlüsse, bekanntlich seit Jahren, neben vielen anderen Leserbriefschreibern und Pädagogen. Auch die Medienredaktionen ziehen nach: «Weg mit Frühfranzösisch», verlangt Christina Neuhaus in der NZZ.

Hoffen wir, das Echo in der Öffentlichkeit zeige endlich Wirkung.

Bei den Wurzeln ansetzen

In unserer Sammlung finden Sie weitere Artikel mit grundsätzlichen Überlegungen.

Pädagogische Gründe für Kleinklassen
Zeno Schärer berichtet anschaulich vom Vortragsabend der Starken Volksschule Zürich mit lebhafter Diskussion zur positiven pädagogischen Bedeutung der Kleinklassen für die Kinder. Von der Einschulungsklassenlehrerin Gabi Schaffner erfuhren die interessierten Teilnehmer, wie sie mit ihrer Kleinklasse spielerisch ins Lernen einsteigt und genug Zeit und Raum hat für die schulische und soziale Förderung und Anleitung der einzelnen Kinder. Gerade am Beginn der Schulzeit ergibt sich bei diesem Klassentyp eine Chance für den Einstieg in die 2. Regelklasse, den die meisten Kinder schaffen. Der frühere Basler SP-Bildungspolitiker und Kleinklassenlehrer in der Oberstufe, Roland Stark, kritisierte unter anderem, dass leistungssschwächere Schüler in der Regelklasse durch ständig wechselnde Lehrkräfte überfordert und zu wenig gefördert werden und dass auch die guten Schüler zu kurz kommen.

Schreibtischtäter in der Bildungsbürokratie
Wenigstens etwas Gutes haben die EDK-Tests: Nun ist die Misere unserer Volksschulbildung amtlich bestätigt und in den Medien wird darüber diskutiert, ob in der Schule wieder Diktate geschrieben werden sollen und ob es nicht sinnvoll wäre, bereits in der Unterstufe die Fehler zu korrigieren. Dass Christophe Darbellay Diktate befürwortet, zeugt von seinem gesunden Menschenverstand, aber der EDK-Präsident verfügt weder über eine Lehrerausbildung noch über pädagogische Praxis – ob er den Lehrplan 21 wohl gelesen hat? Es ist daran zu erinnern, dass Fehlerkorrektur und andere Grundbausteine des Sprachenlernens im Widerspruch zum sogenannt «kompetenzorientierten» Konzept des Lehrplan 21 stehen und deshalb an den PHs verpönt sind. Dasselbe gilt übrigens auch für das Lernen des Einmaleins und für das Auswendiglernen überhaupt. Der Lehrplan 21 verhindert zudem mit seinen unzusammenhängenden und unvollständigen Lernmodulen in bewusster Absicht der Schreibtischtäter in der Bildungsverwaltung den strukturierten Aufbau des Lernstoffes, so dass die Kinder nicht nur Probleme in der Rechtschreibung haben, sondern auch die Grammatik und den Satzbau der deutschen Sprache und erst recht der Fremdsprachen in ihrer Schulzeit nur unzulänglich vermittelt bekommen.

Echte Grundkompetenz im Lesen und Schreiben
Als Müsterchen, wie die PHZH ihre Studenten instruiert, drucken wir noch einmal den Gastkommentar der Schriftstellerin und Berufsschullehrerin Maja Peter vom letzten Dezember ab. Sie hält fest: «Es gibt Lernende, welche die Primar- und Sekundarschule in der Schweiz besucht haben und die Grundkompetenz in Lesen und Schreiben nicht beherrschen. Mit Grundkompetenz meine ich: Gross- und Kleinschreibung, den Punkt am Ende eines Satzes, einen vollständigen Satz mit Subjekt, korrekt konjugiertem Verb und korrekt dekliniertem Objekt.» Die Verantwortung dafür sieht sie bei den PHs. Diese würden von den Junglehrerinnen fordern, dass sie den Kindern das Schreiben nach Gehör beibringen, keine Diktate machen und die Schüler nicht laut lesen lassen. Mit der Schilderung ihrer ganz anders gelagerten Erfahrungen macht Maja Peter ihre Kollegen hoffentlich «gluschtig».

Eine kleine Ergänzung: Diktate sind nicht nur wichtig für das Erlernen der Orthografie, sondern dienen auch dem Einprägen des Satzbaus und der Erweiterung des Wortschatzes, vor allem für die vielen Kinder, die keine Bücher lesen. Noch etwas: Ein guter Pädagoge streicht nicht wie KI automatisch Fehler an, sondern kann sich auch auf einen Bereich beschränken, zum Beispiel auf die Gross- und Kleinschreibung. Er gibt den einzelnen Kindern ein pädagogisch adäquates Echo und nutzt die gemachten Fehler als Ausgangspunkt zum Üben und sich Verbessern.

- Fazit: Es genügt nicht, wenn die EDK und die Kantone Studien und Projekte zur weiteren Analyse der Sprachmisere in der Volksschule in Gang setzen, oder wenn die Schulbehörden die Vorschul-Förderung ausbauen. Wie gesagt, ist das Übel an der Wurzel zu packen.

Schlusspunkt: Kritische Stimme zu den überbordenden ADHS-Diagnosen

Zum Schluss ein ganz anderes Thema. Das Tagi-Interview mit dem Kinderarzt Michael von Rhein zur starken Zunahme der ADHS-Diagnosen ist sehr lesenswert. Zwei Punkte seien herausgegriffen.

  • Die überbordende Zunahme der Diagnosen bedeutet noch lange nicht, dass es entsprechend mehr Kinder mit ADHS gibt. Zwar werden mehr Abklärungen veranlasst, aber das kann auch andere Gründe haben, zum Beispiel, dass viele Lehrer in der heutigen Schulsituation unter Druck sind und sich mit mehr Diagnosen weitere Zusatzkräfte erhoffen.

  • Bevor Medikamente gegen ADHS verschrieben werden, sollten die nicht medikamentösen Massnahmen ausgeschöpft werden.

Klingt einfach, kann aber für die betroffenen Kinder ein Segen sein.

Damit beende ich mein etwas ausführlich geratenes Vorwort und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.

Marianne Wüthrich