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Newsletter vom 20. 6. 2021

Freiheit als Voraussetzung für Höchstleistungen

In Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern kommt oft zum Ausdruck, dass sie sich durch unzählige Absprachen, Konferenzen und Einführungen in den neuen Lehrplan unnötigem Stress ausgesetzt sehen. Wertvolle Zeit, die für die Unterrichtsvorbereitung und die persönliche Weiterbildung eingesetzt werden könnte, geht so verloren. Für Weiterbildungskurse, die nicht mit der Digitalisierung oder der Kompetenzenlehre des neuen Lehrplans in Zusammenhang stehen, steht kaum Zeit zur Verfügung.

Was heute zählt, ist der schulische Output. Der neue Lehrplan mit seinen 2300 exakt beschriebenen Kompetenzschritten gibt den Takt vor. Da ist es Selbsttäuschung, wenn die Lehrpersonen betonen, für sie sei der Lehrplan in der Praxis nicht massgebend. Die meisten Lehrmittel sind längst auf das überladene Kompetenzenmodell ausgerichtet und lassen wenig Zeit, um Wesentliches so zu vertiefen, dass auch langsam Lernende noch mitkommen. Diese Lernhektik setzt die unmittelbare Nützlichkeit der Kompetenzziele an erste Stelle und lässt zu wenig Raum für pädagogische Musse. Statt mehr Zeit in den Deutschunterricht zu investieren, wird die zweite Fremdsprache so früh eingeführt, dass viele Schüler auf der Strecke bleiben.

Erfolgreiche Schulteams benötigen Zeit fürs Wesentliche

Wer die heutige Situation der Lehrerinnen und Lehrer mit früher vergleicht, stellt unweigerlich einen erheblichen Verlust an Gestaltungsfreiheit fest. Allein schon die  neuen Vorstellungen über die Rolle der Lehrpersonen als Begleiter von Lernprozessen und die allgegenwärtige Bildungssteuerung schränken die didaktischen Freiheiten gewaltig ein. Weicht eine Lehrperson von der neuen didaktischen Generallinie ab, muss sie schon sehr stark sein, um den eigenen Weg entschlossen weiterzugehen. Viele ziehen es deshalb vor, sich den vorherrschenden Trends anzuschliessen, um sich keinen Ärger mit teils wenig mutigen Schulleitungen einzuhandeln.

In seinem aufschlussreichen Beitrag über die Freiheit im Lehrerberuf weist Carl Bossard auf die zentrale Bedeutung liberaler Werte in der Pädagogik hin. Freiheiten sind jedoch nur wertvoll, wenn sie mit einem starken Verantwortungsgefühl in Wechselbeziehung stehen. Volle Gestaltungsfreiheit für Lehrpersonen zu fordern ist immer ein Wagnis, denn der Missbrauch dieses Privilegs kann nie ausgeschlossen werden. Doch wo dieses freie Atmen in einem verantwortungsbewussten Schulteam die Regel ist, laufen Lehrerinnen und Lehrer zur Höchstform auf. Sie diskutieren miteinander über zentrale didaktische Fragen und beteiligen sich an schulinternen Weiterbildungskursen mit grossem Interesse. Dabei herrscht durchaus ein gesunder Wettbewerb, im Rahmen des Teams ein starker Mitspieler zu sein.

Kreative Schulen schaffen Gegengewicht zum medial überfluteten Alltag

Doch sind Schulteams mit ausgeprägtem Gestaltungswillen und starken Lehrerpersönlichkeiten heute überhaupt noch gefragt? Wenn man sieht, wie immer mehr Teilzeitstellen die Schullandschaft verändern, entsteht bald einmal der Eindruck, Schulen seien komplizierte Grossbetriebe mit austauschbaren Elementen. Dazu passt bestens, dass man bei einer weitgehenden Digitalisierung des Unterrichts die Lehrpersonen in vielen Bereichen durch schulische Software ersetzen kann. Wenn man zusammenzählt, wie viele Stunden heute Kinder vor Bildschirmen verbringen, dann ist eine ungehemmte Digitalisierung der Schule jedoch kaum die richtige Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit.

Gleich zwei Beiträge setzen sich mit der Frage auseinander, was denn mit einer digitalen Bildungsoffensive an unserer Volksschule überhaupt erreicht werden soll. Timotheus Bruderer hat sich im Wetziker Stadtparlament kritisch zur Digitalisierung der unteren Stufen geäussert und in einem bemerkenswerten Leserbrief vor einer digitalen Ausbaueuphorie gewarnt. Noch einen Schritt weiter geht Peer Teuwsen in der NZZ mit seiner Kampfansage „Wir digitalen Idioten“ an unsere oft erschreckende Abhängigkeit von digitalen Geräten im Alltag. Der Autor sieht medial überfütterte Kinder in der Freizeit, die nun auch noch in der Schule immer häufiger vor Bildschirme gesetzt werden. Dabei wäre es Sache der Schule, durch gut ausgebildete Lehrkräfte eine Gegenwelt des analogen Lernens zu schaffen.

Widerstand gegen utopische Reformprojekte und Entmündigung der Eltern

Drei Beiträge im Mittelteil befassen sich mit der leidigen KV-Reform. Diese wird jetzt um ein Jahr verschoben und gewichtige Einwände der Kritiker sollen berücksichtigt werden.

Doch es schleckt keine Geiss weg, dass im Stil einer undemokratischen Kabinettspolitik die KV-Lehrpersonen ausgeschaltet wurden und zweifelhafte Verfilzungen von Projektverantwortlichen zu einer von der Reform profitierenden Softwarefirma bestehen. Zu Recht weisen Peter Aebersold und Simon Küchler darauf hin, dass der vorgesehene praxisferne Umbau die KV-Ausbildung völlig entwerten würde.

Auch die verkürzte Mittagszeit an den Stadtzürcher Schulen gab weiter zu reden. Leider erhielt eine Einzelinitiative, die eine längere Mittagpause forderte, im Zürcher Gemeinderat nur 18 Stimmen. Grund waren Bedenken, dass das Tagesschulmodell bei einer längeren Mittagspause mehr kosten könnte. Mit der Verkürzung wird die freie Wahl der Mittagsbetreuung jedoch weitgehend zur Farce.

An die Eigenverantwortung von Eltern erinnert auch der Leserbrief von Claudia Irmiger. Sie wehrt sich gegen die Vorstellung, Eltern müssten wie Herdentiere trendige Laufbahnmodelle für ihre Kinder übernehmen. Der Druck, den eigenen Nachwuchs an Gymi-Vorbereitungskurse zu schicken, sei oft hausgemacht und diene nicht dem Wohl der Kinder. Die Autorin wünscht sich selbstbewusstere Eltern in Laufbahnfragen.

Unser Schlussbouquet hat Nadja Pastega von der Sonntagszeitung im Interview mit Alain Pichard zusammengestellt. Was uns dieser bald in Pension gehende Vollblut-Lehrer zu sagen hat, trifft mit gezielten Hammerschlägen bei vielen Antworten den Nagel genau auf den Kopf.

Wir wünschen Ihnen viel Spass bei unserer Sommerlektüre.

Redaktion Starke Volksschule Zürich

Hanspeter Amstutz