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Newsletter vom 6. 6. 2021

Eine Schule für die Schüler, nicht für Bildungsunternehmen wie Ectaveo!

Dass die geplante KV-Reform den Schülerinnen und Schülern, aber auch der Schweizer Wirtschaft grosse Nachteile brächte, darüber sind sich immer mehr Pädagogen sowie Unternehmer- und Lehrerverbände einig. Kein vernünftiger Mensch, kein Kenner der Berufsbildung kann wollen, dass die gute und bewährte KV-Lehre abgewirtschaftet wird. Kernfächer wie Deutsch oder «Wirtschaft und Gesellschaft» (Finanz- und Rechnungswesen, Rechts- und Volkswirtschaftslehre) in einzelne Häppchen aufzulösen und die Landessprache Französisch abzuschaffen, zudem die Lerninhalte durch sogenannte Handlungskompetenzen zu ersetzen, die sich die Jugendlichen selbst beibringen sollen – wer kann denn unserer Jugend so etwas zumuten?

Zur Einordnung der missratenen Reform aus pädagogischer und menschlicher Sicht überlassen wir zuerst Carl Bossard das Wort. Aus der Bildung der Person solle das «unternehmerische Selbst» werden, so beschreibt der erfahrene Pädagoge das absurde Konstrukt. Was die jungen Leute von uns Erwachsenen in Wirklichkeit brauchen, sei unser Lehren und eine konsequente pädagogische Führung: «Wirkung gehe eben nie allein von Strukturen, sondern im Wesentlichen von Menschen aus.»

Wachsender Widerstand

«Handlungskompetenzen zu unterrichten, ohne vorgängig Grundlagen zu vermitteln, ist wie ein Dach zu bauen, ohne Mauern zu erstellen». Mit dieser Formulierung erfasst der «Zürcher Verband der Lehrkräfte in der Berufsbildung» den Kern der grundsätzlichen Kritik am pädagogisch nicht vertretbaren Umbau des KV («Streit um die KV-Reform spitzt sich zu»). Auch wird immer energischer dagegen protestiert, dass ausgerechnet bei der beliebtesten Schweizer Berufslehre das Prinzip der dualen Berufsbildung als Königsweg einer durchlässigen Bildung verlassen werden soll. Denn mit der Ausdünnung der obligatorischen Lerninhalte in der Grundbildung wäre der heute häufig genutzte Anschluss an die lernintensive KV-Lehre mit Berufsmaturität gefährdet («KV darf nicht zur Sackgasse werden»).

Eigentlich wissen wir um die Untauglichkeit des sogenannt kompetenzorientierten «selbstorganisierten Lernens» (SOL) schon seit unserem jahrelangen Kampf gegen den Lehrplan 21, dessen schädliche Folgen immer mehr Kinder zu spüren bekommen. Und diesen Irrweg soll nun auch die KV-Lehre beschreiten? Ähnlich wie beim Lehrplan 21 stellen auch hier die Verantwortlichen auf stur: Ein Neustart der Reform stehe nicht zur Diskussion, so die völlig inadäquate Antwort des «Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI)» an die vielen besorgten Kritiker.

Cui bono? Wem bringt die KV-Reform etwas?

Diese Frage wird in einem Kommentar von Andreas Venakis zu Carl Bossards Artikel beantwortet. Der Bund hat nämlich statt eines zwingend notwendigen pädagogischen Gremiums das Bildungsberatungs-Unternehmen Ectaveo, «das Lehrmittel, Weiterbildungs-Kurse für Lehrerinnen und Lehrer sowie eine webbasierte Lernplattform anbietet», mit der Reform beauftragt. Die Ähnlichkeiten des Vokabulars der Ectaveo-Webseite mit dem Entwurf des KV-Lehrplans seien beängstigend, so Venakis. Zudem stellt der Zürcher Berufsschullehrerverband fest, dass bekannt gewordene personelle Verknüpfungen zwischen der Auftraggeberin und der beauftragten Firma die Reform «in Schieflage» bringen.

Nur damit es nicht vergessen geht: Ectaveo und andere Bildungs-Unternehmen sind – neben den Verwaltungsblasen in den Bildungsabteilungen des Bundes und der Kantone – die eigentlichen Nutzniesser der KV-Reform ebenso wie des Umpflügens der Volksschule.

Jetzt ist Gelegenheit, diesem Skandal wenigstens in Bezug auf das KV ein Ende zu setzen: Lassen wir nicht zu, dass die gut aufgestellte KV-Lehre kaputtgemacht wird!

Dauer-Baustellen auch in der Schweizer Volksschule – alle mit derselben Wurzel

Kurze Zusammenfassung der Misere: Den Zürcher Lehrerinnen und Lehrern sollen laut der Bildungsdirektion höhere Pensen aufgebrummt werden – warum? Weil immer mehr Lehrkräfte aussteigen oder auf kleinere Pensen umsteigen – warum? Weil die Aufgaben der Klassenlehrerinnen in der Volksschule kaum mehr zu bewältigen sind: «Die administrativen Umtriebe werden immer grösser, die Klassen durch die übertriebene Integration von Förderschülern immer heterogener und die Absprachen zwischen den beteiligten Lehrkräften immer zeitaufwendiger», erklärt Hans-Peter Köhli in seinem Leserbrief. Deshalb, so der Zürcher Lehrerverbandspräsident Christian Hugi, reduzieren viele Lehrer ihr Pensum, «um sich vor Überlastung zu schützen». Und deshalb sollen die verbleibenden Lehrerinnen noch mehr arbeiten, so dass in der Folge noch mehr von ihnen aussteigen? Da beisst sich die Katze in den Schwanz… Dann doch lieber wieder Kleinklassen einführen – danke für deine Hartnäckigkeit, Hans-Peter!

Und weil die Lehrkräfte ihre Herkules-Aufgabe kaum mehr bewältigen können, müssen die Eltern in den Ring steigen: Sie sollen das Lernen ihrer Kinder begleiten, deren Hausaufgaben kontrollieren, ihnen bei der Erstellung von Referaten und Power-Point-Präsentationen oder bei der Vorbereitung auf Prüfungen helfen. So beschreibt Margrit Stamm die unbefriedigende Situation in ihrem Kommentar «Überleister und Langsamlerner». Sie ortet das Problem in der «auf Erfolg getrimmten Konkurrenzgesellschaft».

Sicher stimmt das in manchen Fällen. Aber ehrlich gesagt: Wenn ich heutzutage Kinder hätte, die in Inklusionsklassen selbstorganisiert ihr Lernen auf die Reihe kriegen sollen, weil die Lehrerin nur noch coachen statt unterrichten darf und weil sie tatsächlich auch zu viel um die Ohren hat, um jedem Kind gerecht zu werden – dann würde ich meinen Kindern auch beispringen wollen. Und weil ich glücklicherweise nicht fremdsprachig oder «bildungsfern» bin, wäre ich dazu auch imstande. Ungerecht, aber real. Wenn ich dies nicht täte, könnte es so enden, wie Rainer Werner aus deutschen «Preisträger»-Schulen berichtet: Da wird viel «Kreativität» versprüht, aber nicht überprüft, ob die Schulabgänger einiges von dem gelernt haben, was sie brauchen, um ihre Zukunft zu bewältigen.

Eine verrückte Welt – wo es doch gar nicht so schwierig wäre, den Kindern etwas Sinnvolles beizubringen. Die Leute in den Bildungsverwaltungen und Lehrerausbildungsstätten müssten nur kapieren, was es braucht, damit die Kinder in der Schule etwas lernen. Damit zurück zum Anfang: zu Carl Bossards Aufruf, die «pädagogische Substanz der Probleme zu erfassen».

Die Redaktion wünscht viel Anregung bei der Lektüre.

Marianne Wüthrich