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Newsletter vom 9. 5. 2021

KV-Reform "Kaufleute 22" – ein weiterer Bildungsabbau der schlimmeren Sorte

Dieses Thema zum Schwerpunkt des Newsletters zu machen, drängt sich angesichts des Ernstes der Lage auf. Als ehemalige KV-Lehrerin erlaube ich mir, diesen Teil etwas ausführlicher zu gestalten.

Das KV ist eine der solidesten und von Eltern und Jugendlichen ausserordentlich geschätzten Berufslehren. Die Zahl der KV-Lehrverträge besetzt seit vielen Jahren den Spitzenplatz in der Schweizer Berufsbildung. Und wie sieht die "Reform" aus? Statt guter fachlicher Kenntnisse in Deutsch, zwei Fremdsprachen, "Wirtschaft und Gesellschaft" (Recht, Volkswirtschaftslehre, Staatskunde, Rechnungswesen) und in weiteren Grundlagenfächern sollen die Schüler nun in einem inhaltlichen Chrüsimüsi von fächerübergreifenden "Handlungsbausteinen" sogenannte "Handlungskompetenz" erwerben. Dies selbstverständlich mit "selbstorganisiertem" Tun – das kennen wir zur Genüge vom Lehrplan 21.

Carl Bossard legt bereits im Titel seines Beitrags den Finger auf den wunden Punkt: "Reform ohne pädagogische Basis!" (Sein Fragezeichen erlaube ich mir hier in ein Ausrufezeichen umzuwandeln): "Kompetenzen brauchen immer ein Wissensfundament. Das Denken folgt dem Wissen, das Können dem Geübt-Haben. Eine pädagogische Konstante!" Besser kann man diesen Pfeiler unserer einst vortrefflichen Bildung nicht benennen. Das ganze Kompetenzgeschwafel löst sich damit in Luft auf.

Ein Müsterli gefällig? "Diese Handlungsbausteine sind eine wichtige Gelingensbedingung für die Umsetzung der Handlungskompetenzorientierung." (https://www.skkab.ch/aktuell/neue-lernmedien/). "Gelingensbedingung" – eine irre Wortschöpfung! Unser Freund Carl würde, wie wir auch, die "Gelingensbedingung" für erfolgreiches Lernen ganz anders beschreiben…

"Wozu lernen wir das?"

In meinen Klassen in der gewerblichen Berufsschule und im KV hat immer einmal wieder eine Schülerin gefragt: "Wozu lernen wir das? In meinem Betrieb müssen wir das gar nicht können." Das war jeweils eine herrliche Gelegenheit, um mit der Klasse ins Gespräch zu kommen über das Lernen und den Sinn der Bildung – weit über das Berufsleben hinaus. Da öffneten sich die Köpfe und die Herzen meiner Schüler für das Abenteuer, Neues zu erfahren, den eigenen Horizont zu erweitern.

Das Ziel der KV-Reform 22 steht diametral im Gegensatz zu dieser unverzichtbaren Aufgabe der Berufsschulen, die Jugendlichen nicht nur für ihren Beruf auszubilden, sondern ihnen auch den Schatz eines breiten Wissens aufzutun und sie einzuladen, Ungewohntes auszuprobieren und kennenzulernen. Auf der Homepage des KV Luzern, deren Link Carl Bossard in einer Fussnote angibt, lesen wir mit Befremden: "Die Ausbildungsinhalte sind noch stärker auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts, der verschiedenen Branchen und damit der Betriebe ausgerichtet, was einen höheren Praxisnutzen bedeutet". Ein Bildungsverantwortlicher aus der Wirtschaft legt nach: "Dadurch können wir den Betrieben eine attraktivere Lehre anbieten – was sich positiv auf die Ausbildungsbereitschaft auswirken wird."

Sollen also die Jugendlichen in der Berufsschule so zurecht-gschträlet werden, dass sie einen "höheren Praxisnutzen" bringen? Soweit kommt's noch! Die Schweizer Unternehmer in KMUs und Grossbetrieben hatten bisher immer genügend "Ausbildungsbereitschaft", weil sie ihre Mitverantwortung für eine gute Ausbildung unserer Jugend und damit auch für deren Fähigkeit und Bereitschaft, die Gesellschaft mitzutragen, wahrgenommen haben. Falls dies nicht mehr auf allen Chef-Etagen klar sein sollte, braucht es dringend Weiterbildungskurse für die Betriebsleitungen.

Eine Lanze für die schwächeren Lerner!

Als Lehrerin am KV der Berufsschule Bülach habe ich in B-Profil-Klassen das Sammelfach "Wirtschaft und Gesellschaft" unterrichtet. In diesen Klassen sitzen zum Teil Schüler mit grösseren Lernschwierigkeiten neben anderen mit grossem Einsatz und Freude am Vorankommen, die häufig einen Abschluss im E-Profil oder sogar eine Berufsmatura anhängen, wenn sie in den drei Jahren ihrer Lehre dazu ermutigt werden. Die Klassen sind kleiner als die im E-Profil, weil hier viele ganz besonders eine gründliche Schulung und persönliche Betreuung durch die Lehrerin brauchen.

Dieses B-Profil wollen die Reformer abschaffen, alle KV-Schüler in einen Topf werfen. Es ist zu befürchten, dass die schwächeren Schüler, bei denen wir im B-Profil oft erfreuliche Resultate hinbrachten, dann im niederen EBA-Niveau landen (Eidgenössisches Berufsattest, entspricht etwa der früheren Bürolehre), also den EFZ-Status verlieren. Wenn sie keinen richtigen Grundlagen-Unterricht mehr erhalten, werden sie zu Hilfskräften degradiert werden, die einfache Handreichungen machen, fertige Dokumente herunterladen und Small-Talk statt etwas Vernünftiges lernen. Die bringen dann eben einen " höheren Praxisnutzen", auf Kosten ihrer persönlichen Entwicklung.

Übrigens soll das heutige M-Profil, die KV-Lehre mit Berufsmatura, mit dem bisherigen Fachunterricht aufrechterhalten werden. Wie mit dem Paradigmenwechsel in den übrigen KV-Klassen die heute bestehende und funktionierende Durchlässigkeit erhalten werden soll, steht in den Sternen!

"Kulturwandel" oder Eingriff in die Lehrerpersönlichkeit?

Und was ist für die Rolle der Berufsschullehrer geplant? Dreimal dürfen Sie raten – oder reicht einmal? "Die Lehrpersonen werden vermehrt zu Lernbegleiterinnen und -begleitern. An unserer Schule üben sie sich bereits heute in dieser Rolle, zum Beispiel im Projekt «Begleitetes Selbstorganisiertes Lernen – BGSOL." (Peter Kaeser, Direktor WKS KV Bildung, Bern). Gleichzeitig wird die Verantwortlichkeit der KV-Lehrkräfte für ihre Klassen und ihr Fach ganz einfach gestrichen: "Zudem kommt auf die Lehrpersonen ein Kulturwandel zu: Sie müssen vermehrt zusammenarbeiten. Toll wäre, wenn die SKKAB entsprechende Weiterbildungsmodule entwickeln würde." (Daniela Bärtschi, Abteilungsleiterin KV Detailhandel, bz emme, Burgdorf).

Als ob die Lehrer nicht gerne zusammenarbeiten würden! Da wird vom eigentlichen Ziel des "Kulturwandels" – der radikalen Auflösung der Fächer und der Abschaffung eines strukturierten Stoffaufbaus durch die Klassen- und Fachlehrerinnen – in raffinierter Weise abgelenkt. Gleichzeitig packt man die Leute auf der Ebene der Persönlichkeit und versucht sie zu verunsichern: Vielleicht fehlt's bei mir an der Fähigkeit zur Zusammenarbeit? Und schon hat man sie am Wickel und lähmt ihren Widerstand gegen die Schüler-schädigende Reform.

Zwei Politikerinnen, die sich nicht vom Widerspruch abbringen lassen, kommen im letzten Beitrag unseres Newsletters zu Wort. Gut, dass Katja Christ und Samira Marti Antworten einfordern! Ihr Einsatz wird viele Menschen aufmerksam machen auf die geplante Bildungsmisere im KV.

 

 

Brauchen Pubertierende mehr Schonung?

Nun ganz kurz zu den anderen, ebenfalls wichtigen Beiträgen des Newsletters. Nach einem weiteren Beitrag zum Dauerthema "Schulen im Corona-Stress" folgt ein Artikel zur immer weiter nach vorn gerückte Lehrstellensuche ("Betriebe behandeln Jugendliche falsch"): Ja, hier sollten die Oberstufenlehrer sich für "mehr Schonung" einsetzen. Es ist unsinnig, wenn Jugendliche unter Druck gesetzt werden, sich mit 14 Jahren sozusagen "definitiv" zu entscheiden, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Vielmehr sollten sie von uns Erwachsenen erfahren, dass es im Laufe des Lebens noch viele Möglichkeiten geben wird, andere Wege zu finden – wenn sie das wollen.

Ganz anders gelagert ist die Frage, ob es für Jugendliche besser wäre, am Morgen später mit der Schule zu beginnen. Sollen wir den jungen Menschen beim nicht so einfachen Übergang ins Erwachsenenleben alle Steine aus dem Weg räumen? Oder brauchen sie nicht eher Lehrerinnen und Lehrer, die ihnen die Realitäten des Lebens vor Augen führen, ihnen zutrauen, die nötigen Schritte zu machen, und sie dabei von gleich zu gleich begleiten? Etwa in der Art des im Artikel erwähnten Gemeinderats und Sek-Lehrers Stefan Urech. Er hat seiner Klasse die reale Lage vor Augen geführt: Später anzufangen hat Konsequenzen, nämlich kürzere Mittagspausen oder längere Schulnachmittage. Darauf entschied sich die Klassenmehrheit für den Status quo.

Übrigens: Wenn die Jugendlichen nach der Sek eine Lehre machen, müssen sie oft schon um 7 Uhr mit der Arbeit beginnen, fünf Tage in der Woche, ohne freien Nachmittag. Als junge Berufsschullehrerin und ehemalige Gymi-Schülerin habe ich einst gestaunt, wie schnell sich die 15-Jährigen von der "easy" Oberstufe auf das "harte Leben" im Lehrbetrieb (Originalton meiner Schüler) umgestellt haben. Die meisten schafften dies ohne zu jammern: Das Interesse am Neuen und der Stolz, jetzt "zu den Erwachsenen zu gehören", liess den Umstellungsstress in den Hintergrund treten. Nehmen wir die Jugendlichen also lieber grösser als kleiner!

Trotz allem Unerfreulichen wünsche ich Ihnen eine erspriessliche Lektüre an diesem wunderschönen Frühlingswochenende

Marianne Wüthrich