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Newsletter vom 28. 2. 2021

Der dominante Fokus auf die Digitalisierung blendet wichtigere Fragen aus

Auf die Frage, was zurzeit die grösste Herausforderung für die Volksschule sei, bekommt man von Bildungspolitikern sofort eine Antwort. Zuerst kommt die Digitalisierung, und dann ganz lange nichts mehr. Mit der Digitalisierung der Lernprozesse sind in vielen bildungsnahen Kreisen hohe Erwartungen verknüpft. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass eine Schule irgendwo verkündet, dass man nun dank der Ausrüstung aller Primarschüler mit Tablets ins Zeitalter des modernen Lernens eintreten werde. Das macht grossen Eindruck bei vielen Eltern und manche Lehrpersonen sind froh, dass sie nun Teil einer fortschrittlichen Schule sind. Die Aussichten sind verlockend, denn die Digitalisierung bietet anscheinend Lösungen für fast jedes schulische Problem. Viele erhoffen sich Erleichterungen bei der Organisation des aufwändigen individuellen Lernens. Schwächere Schüler könnten den Stoff in angepassten Trainingsprogrammen vertiefen und so den Anschluss an die Klasse finden. Begabte würden in digitalen Selbstlernprogrammen ihr Potenzial besser ausschöpfen und eine hohe Medienkompetenz erwerben. Dabei schwingt unüberhörbar die bildungspolitische Drohung mit, dass eine Schule schon bald ins Abseits gerate, wenn sie sich dem Erfolg versprechenden Trend nicht anschliesse.

Der lebendige analoge Unterricht bleibt zentral

Doch an der aktuellen Diskussion über die dringenden Investitionen stört mich einiges. Bedenklich ist das weitgehende Ausklammern der Grundfrage nach der nachhaltigen Wirkung einer weitgehenden Umstellung auf digitale Lernformen. Mit der Anschaffung moderner digitaler Geräte und dem Kauf teurer Software ist es nicht getan. Wer digitale Lernprozesse nicht sehr geschickt mit dem nach wie vor zentralen analogen Unterricht verbindet, wird wenig erreichen. Eine Lehrerin muss in erster Linie so ausgebildet sein, dass sie im lebendigen Klassenunterricht aus einem vielfältigen Repertoire an passenden didaktischen Möglichkeiten schöpfen kann. Kommt diese Förderung in der Lehrerbildung erst an zweiter Stelle, fehlt das pädagogische Fundament.

Gar kein Verständnis kann ich aufbringen, wenn die Bildungspolitik sich lieber auf dem Nebenschauplatz der Digitalisierung tummelt statt Lösungen für die aktuell brennendsten Herausforderungen der Volksschule zu suchen. Wo sind die Antworten auf das Debakel des Illettrismus bei einem Viertel unserer Schulabgänger? Wenn 24 Prozent unserer Schulabgänger nicht imstande sind, einfache Texte zu verstehen, dann ist die Bildungspolitik gefordert. Eine Volksschule, die unzählige Jugendliche so entlässt, dass sie nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, erfüllt ihren Grundauftrag nicht. Wer in der Politik stets das Wort Chancengerechtigkeit ins Feld führt, muss sich da einige Fragen gefallen lassen.

Problem Nummer eins: Die Lese- und Schreibschwäche vieler Schulabgänger

Nach Bekanntgabe der Resultate herrschte bei Bildungsexperten und politischen Entscheidungsträgern weitgehend Ratlosigkeit. Einige vermuteten wohl, dass eine vertiefte Analyse dem aktuellen Sprachenkonzept mit den ausufernden Zielsetzungen kein gutes Zeugnis ausstellen würde. Also sagte man zum Debakel lieber nichts. Daran hat sich wenig geändert, auch wenn einige Politiker glauben, mit einer sprachlichen Förderung im Vorschulalter könne in vielen Fällen Abhilfe geschaffen werden.

 

Ganz anders sieht das aus, wenn sich Carl Bossard mit dem Thema der sprachlichen Entwicklung unserer Jugend auseinandersetzt. Er differenziert zwischen dem vertiefenden Lesen gedruckter Texte und dem schnellen Lesen von kurzen Mitteilungen auf digitalen Oberflächen. Seine Analyse ist faszinierend und regt zur gründlichen Auseinandersetzung mit der Leseförderung an.

Eine ähnliche Position, aber um einiges lauter im Ton, nimmt Klaus Zierer ein, wenn er über die Bedeutung des Lernens als sozialer Prozess spricht. In seinem Beitrag betont der Autor, dass der Mensch den Menschen in seiner ganzen Unmittelbarkeit braucht, um sich voll entwickeln zu können. Tiefsinnige Gedanken in ungekünstelter Form finden sich im Interview mit dem Wissenschafterpaar Karin und Klaus Grossmann. Die beiden sehen in der Empathie von Lehrerinnen und Lehrern im täglichen Unterricht das Geheimnis des schulischen Aufblühens der ihnen anvertrauten jungen Menschen.

Und bei Andrea Bertschi-Kaufmann findet man in ihrem Interview erhellende Antworten zur Frage, welche Fähigkeiten zur Lesefreude beitragen.

Problem Nummer zwei: Das gescheiterte integrative Konzept

Wenn es um wichtige Fragen geht, die zurzeit in der Bildungspolitik ausgeblendet werden, dann steht das gescheiterte integrative Konzept ganz weit vorn. Lehrpersonen können ein Lied davon singen, wie sehr Schüler mit aussergewöhnlichen pädagogischen Bedürfnissen den täglichen Schulbetrieb belasten. Riccardo Bonfranchi macht mit seinem aufrüttelnden Beitrag darauf aufmerksam, dass sich manche Schüler durch eine forcierte Integration in Regelklassen einen empfindlichen Lernrückstand einhandeln. Der Autor zeigt auf, dass in heilpädagogischen Sonderklassen benachteiligte Schüler weit besser auf einen grünen Zweig kommen und sich mit mehr Freude am Unterricht beteiligen.

Nicht überraschend nach der Zeit des Fernunterrichts ist die Frage nach dem Sinn von Hausaufgaben wieder neu entbrannt. Von der Forderung nach Abschaffung der „Ufzgi“ bis zur Überhöhung von deren Stellenwert war in den Zeitungen ein breites Meinungsspektrum zu finden. Umso hilfreicher sind die beiden Beiträge von Rolf Dubs und Carl Bossard, die differenziert die Funktion sinnvoller Hausaufgaben begründen und Wege für konfliktfreie schulische Aufträge aufzeigen.

Bei den Beiträgen über die Schule in der Corona-Zeit haben wir uns auf zwei Texte beschränkt. Dabei sticht der Bericht aus unserem südlichen Nachbarland heraus. Wer sich die aktuelle Situation in Italiens Schulwesen im Coronajahr zu Gemüt führt, wird dankbar sein, dass wir von diesem furchtbaren Szenario weitgehend verschont blieben. Den Schlusspunkt bildet ein interessanter Beitrag des bekannten Bildungsexperten Urs Kalberer über den unhaltbaren Mythos der individuellen Lernstile. 

Wählen Sie einfach aus und geniessen Sie die Lektüre.

Redaktion Starke Volksschule Zürich

Hanspeter Amstutz