Diskussionen um Integration, Notengebung und Chancengerechtigkeit flammen neu auf
Nicht verpassen: Podiumsgespräch zur Förderklassen-Initiative
Wir laden Sie herzlich ein zum Podiumsgespräch, das die «Starke Volksschule Zürich» am Donnerstag, den 11. April, zum Thema «Förderklassen» organisiert. Im Kanton Zürich werden zurzeit die Unterschriften für die kantonale «Volksinitiative für eine Schule mit Zukunft – fördern statt überfordern» gesammelt. Wir freuen uns, wenn Sie diese unterschreiben und weitere Unterschriften sammeln. Unterschriftenbögen finden Sie unter https://www.schule-mit-zukunft.ch, oder Sie nehmen nach dem Podiumsgespräch ein paar Bögen mit. Den Flyer zum Podiumsgespräch finden Sie am Schluss dieser Textsammlung.
Die «Starke Volksschule Zürich» setzt sich seit Jahren für eine Volksschule ein, die jedem Kind eine adäquate Lernsituation bietet. Weil dies für Kinder mit besonderem Förderbedarf in der Regelklasse oft nicht möglich ist, fordern immer mehr Fachleute quer durch die Schweiz die Errichtung von heilpädagogisch geführten Klein- oder Förderklassen. Damit wäre auch in den Regelklassen ein geordneter Unterricht möglich, was allen Schülern und Lehrkräften zugutekäme.
Vor einem Jahr haben zwei Kantonsrätinnen eine diesbezügliche Anfrage an den Regierungsrat gestellt, die wir in diesem Newsletter veröffentlichen. In seiner Antwort bestätigt dieser, dass die Gemeinden gemäss kantonalem Recht Kinder und Jugendliche mit besonders hohem Förderbedarf in Kleinklassen unterrichten können. Diese Klassen haben keinen Sonderschulstatus, sondern ihr Ziel ist der Übertritt in die Regelklasse, sobald ein Schüler «im Rahmen des Regelklassenunterrichts angemessen gefördert werden kann».
Förderklassen sind eine Chance für eine bessere Schullaufbahn
Genau dasselbe Ziel – aber mit Zugang für alle Kinder, wenn Bedarf besteht – hat die Förderklassen-Initiative, die Sie am 11. April mit unseren Referenten diskutieren können. Im Gegensatz zur Initiative beharrt der Regierungsrat jedoch auf der «Tragfähigkeit des Regelsystems», das mit den bekannten, aber ungenügenden Mitteln (Beratung und Unterstützung, Klassenassistenzen usw.) oder mit den pädagogisch verfehlten Schulinseln «getragen» werden soll.
Zur nach wie vor herumgeisternden, aber rechtlich nicht haltbaren Behauptung, die Führung von Kleinklassen sei «völkerrechtswidrig», publizieren wir einen bereits vor einigen Jahren erschienenen Artikel von Roland Stark, einem unserer Referenten («Integrativer Zwischenruf aus Basel-Stadt. Romantik statt Praxiserfahrung».) Darin hält er fest, dass in der Erklärung von Salamanca von 1994 an keiner Stelle stehe, «dass Sonderschulen abzuschaffen seien.» Dies steht übrigens auch in keinem anderen internationalen Vertrag oder Schweizer Gesetz. Roland Stark: «Im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration stehen nicht organisatorische Fragen, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden.»
Diese pädagogisch-psychologische Dimension des Problems haben uns am letzten Vortragsabend die beiden Heilpädagogen Eliane Perret und Riccardo Bonfranchi nähergebracht. Zur Vertiefung des Themas empfehlen wir Perrets Artikel «Das Menschenbild entscheidet – Psychiatrie versus Pädagogik».
Was von den Noten erwartet werden kann und was nicht
Einen hilfreichen Überblick zur Notendebatte gibt uns Carl Bossard, mit Hinweisen auf die pädagogische Literatur und auf politische Vorstösse: Noten als nützliche Hilfe, um Eltern, Lehrbetriebe und die Schüler selbst über deren Lernleistung zu informieren. Einen pädagogischen Wert haben Noten an sich nicht, so der Autor, sondern nur in Verbindung mit «einem wertschätzenden Umfeld, in einer positiven und ermutigenden Atmosphäre».
Bossard stört sich zu Recht am Vorpreschen des Schulleiterverbands-Präsidenten Thomas Minder, der die Noten abschaffen will, entgegen den Mehrheitsmeinungen in der Politik und der Bevölkerung. So hat zum Beispiel der Zürcher Kantonsrat vor knapp zwei Jahren mit deutlichem Mehr am Semesterzeugnis mit Noten festgehalten und einen diesbezüglichen Antrag auf Änderung des Volksschulgesetzes abgelehnt.
Die Volksschule zu stärken ist dringender als das Beurteilungssystem zu ändern
Selbstverständlich kann die Notengebung zuweilen voreingenommen und ungerecht ausfallen, vor allem wenn es nicht um Richtig/Falsch-Antworten, sondern zum Beispiel um Aufsätze geht. Aber die Kritik an den Schulnoten lenkt unsere Aufmerksamkeit in die falsche Richtung, so Nationalrätin und Bildungspolitikerin Katja Christ. Sie weist darauf hin, dass die Schule ernsthaftere Probleme hat: «Der gravierende Lehrermangel gefährdet die Unterrichtsqualität, ein Viertel der Volksschulabgängerinnen und -abgänger ist nicht in der Lage, einen einfachen Text zu verstehen, die aus dem Ruder gelaufene Integration belastet die Regelklassen und die Überfrachtung der Lehrpläne führt zu Beliebigkeit.» Oder in den Worten Carl Bossards: Die Abkehr vom Notenmodell «ist ein unnötiges Drehen an einer (Neben-)Stellschraube, ohne den Blick auf das systemische Ganze mit den anspruchsvollen Lehr- und Lernprozessen zu richten.»
Richten wir unseren Blick also auf das Wesentliche. Als Folge der schweren Mängel in den Lehrplänen und der Lehrerbildung hat es sich längst herumgesprochen, dass die Fünfer oder Sechser im Oberstufenzeugnis vieler Schulabgänger oft nicht der Realität entsprechen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Lehrbetriebe sich selbst ein Bild von den Kenntnissen und Fertigkeiten ihrer Schnupperlehrlinge machen wollen und sie zusätzlich zu praktischen Aufgaben auch firmen- oder branchenentwickelte Aufnahmetests lösen lassen. Für eine Berufslehre muss man Betriebsanleitungen und Fachbücher lesen und verstehen können, man muss Arbeitsrapporte schreiben, mathematische Formeln anwenden oder einen Verkaufspreis kalkulieren, mit Hammer und Schraubenzieher richtig umgehen oder das Zehnfingersystem beherrschen und dazu die nötigen sozialen Kompetenzen mitbringen. Es ist die Pflicht und Schuldigkeit der Volksschule, unserer Jugend all das und noch viel mehr mitzugeben. Damit sind wir schon mitten im Thema Chancengleichheit.
Verbesserung der Chancengleichheit ist ein Auftrag der Volksschule
Regelmässig mit den ersten Primeli wächst im Kanton Zürich und anderswo die Aufregung um die Gymi-Prüfungen, und in den Medien wird einmal mehr die Frage der Chancengleichheit aufgeworfen.
Es ist nichts Neues, dass auf dem Zürichberg oder an der Goldküste prozentual mehr Jugendliche ins Gymi gehen oder zumindest die Prüfung versuchen als in Schwamendingen oder im Tösstal. Diese Tatsache mit den unterschiedlichen Durchschnittseinkommen in den betreffenden Stadtkreisen, Gemeinden oder Regionen zu erklären («Je reicher, desto eher ins Gymnasium»), ist allerdings ziemlich oberflächlich. Klar können nicht alle Eltern ihren Kindern Privatstunden bezahlen. Zu begrüssen ist, dass viele Zürcher Volksschulen kostenlose Vorbereitungskurse anbieten, was nächstens obligatorisch werden könnte, so Daniel Schneebeli im Tages-Anzeiger.
Der Kern der Chancengleichheit ist aber ein ganz anderer: Gerade weil die Kinder zuhause nicht alle gleich gut gefördert werden (können), wurden im 19. Jahrhundert die Volksschulen errichtet. Ihre Aufgabe ist es auch heute, allen Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen und damit zu mehr Chancengleichheit beizutragen. Diese Pflicht ist in den kantonalen Volksschulgesetzen verankert. Nach dreissig Jahren mehrheitlich haarsträubender Schulreformen kommt die heutige Volksschule ihrem gesetzlichen Auftrag höchstens ansatzweise nach. Das bestätigt unser Redaktionskollege Hanspeter Amstutz in seinem Leserbrief zum «Bedeutungsverlust des Fachs Geschichte». Ebenso der Rektor der Kantonsschule Uetikon, Martin Zimmermann, in seinem sehr lesenswerten Interview («Wir müssen viele Schüler enttäuschen»). Er sagt: «Viele erwarten, dass die für alle gleiche Prüfung die ungleichen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen ausgleicht. Aber dafür ist es beim Übertritt an die Mittelschule zu spät. Das muss viel früher passieren.» Und weiter: «Viele Eltern machen sich Sorgen, dass der reguläre Unterricht nicht das abdeckt, was an der Gymiprüfung verlangt wird.» Das gilt übrigens auch für die Berufslehren.
Ist das nicht verrückt? Wenn die Volksschule das Wissen und die Fähigkeiten nicht abdeckt, die ein Jugendlicher für das Gymnasium oder für eine Berufslehre benötigt, dann ist es mit der Chancengleichheit nicht weit her – so einfach ist das. Deshalb brauchen wir Förderklassen für diejenigen Kinder, die in der Regelklasse unterzugehen drohen, und deshalb muss die Volksschule wieder ihren Auftrag erfüllen, den das Zürcher Volksschulgesetz in § 2,4 vorschreibt: «Die Volksschule vermittelt grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten; sie führt zum Erkennen von Zusammenhängen. Sie fördert die Achtung vor Mitmenschen und Umwelt und strebt die ganzheitliche Entwicklung der Kinder zu selbstständigen und gemeinschaftsfähigen Menschen an. Die Schule ist bestrebt, die Freude am Lernen und an der Leistung zu wecken und zu erhalten.»
Nun wünschen wir viel Freude am Lesen.
Marianne Wüthrich