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Newsletter vom 11. 2. 2024

Besserer Unterricht mit Lerncoachs statt Lehrern?

Besserer Unterricht mit Lerncoachs statt Lehrern?

In einem fünfseitigen Interview im Magazin des Tages-Anzeigers entwirft eine ehemaligen Institutsleiterin der Pädagogischen Hochschule Zürich ein Zukunftsmodell der Volksschule. Es sind kühne Vorstellungen, welche da skizziert werden. So fordert die Bildungsexpertin, dass die bisherige Klassenlehrerfunktion abzuschaffen sei und jeweils ein Team von vier Lehrpersonen eines Stockwerks die gemeinsame Verantwortung für gut sechzig Kinder tragen soll. Die Schüler seien individuell durch einfühlsame Coachs zu begleiten, denen eine zentrale Rolle als Bezugspersonen in den Lernprozessen zukomme.

In keinem Teil des Interviews ist die Rede davon, dass jede Lehrperson in der eigenen Klasse die Schüler gemeinsam unterrichtet und Bildungsinhalte direkt vermittelt. Das Zukunftsbild einer Lehrerin bleibt ziemlich farblos. Welchen Stellenwert hat die Kunst des Erzählens, die Kompetenz der anschaulichen Instruktion oder das konsequente Ermutigen im Sprachtraining ? All das scheint zweitrangig zu sein.

Das ganze Ideengebäude geht von einer psychologisch schiefen Annahme aus. Es ist die Vorstellung, die allermeisten Kinder seien im Grunde genommen nicht auf Autoritäten angewiesen, die ihnen als Vorbilder und Fachleute den Weg zu umfassender Bildung zeigen. Wir verzichten hier, weitere umstrittene Aussagen im Interview zu kommentieren. Wenn Sie wissen möchten, wohin die Reise der Schulentwicklung schlimmstenfalls gehen könnte, finden Sie den Magazin-Beitrag am Schluss.

Die Lehrerbildung muss die Klassenführung stärker gewichten

In unserem Leitartikel greift Carl Bossard die im Tagi-Interview ausgeklammerte Autoritätsfrage auf. Der Autor zeigt, welch grosse Bedeutung eine als Vorbild wirkende Lehrerin für eine gesunde Entwicklung der Kinder hat. Die Auffassung, dass eine forcierte Individualisierung der Lernprozesse mit digitalen Bildungsprogrammen den weitgehenden Verzicht auf ein Lernen im Klassenverband ermögliche, erachtet Carl Bossard als fatalen Irrtum. Vielmehr zeige die Erfahrung, dass die Dynamik des gemeinsamen Lernens unter Führung einer kompetenten Lehrerin eine der effizientesten Lernformen ist. 

Leider ist die Kunst der Klassenführung in den letzten Jahren in der Lehrerbildung arg vernachlässigt worden. Das rächt sich nun gewaltig. Spätestens nach den lauter werdenden Hilferufen aus schwer führbaren Klassen hätte ein Umdenken erfolgen müssen. Doch davon ist bisher wenig zu spüren. Carl Bossard fordert deshalb eine gezielte Schulung der Leadership-Aufgabe in der Lehrerbildung. Die Forderung ist sehr berechtigt. Wie Umfragen unter den Studienabgängern zeigen, wird die mangelnde Vorbereitung auf die Klassenführung als grösstes Manko in den Ausbildungskonzepten der Pädagogischen Hochschulen bezeichnet.

Attraktive Leseförderung mit verbindlichen Lernzielen

Unser zweiter Beitrag setzt sich mit einer kreativen Antwort einer Bieler Schule auf das schon länger bestehende Lese-Defizit vieler unserer Schulabgänger auseinander. In einem von Condorcet-Redaktorin Yasemin Dinekli geführten Interview gibt uns die Schulleiterin eines innovativen Bieler Schulteams Einblicke in ein nachahmenswertes Projekt. Lehrerinnen und Lehrer haben sich verpflichtet, sich unter Beizug von Fachleuten in die Jugendliteratur zu vertiefen und mit ihren Klassen spannende Texte zu lesen. Dabei kommt die ganze Klaviatur der Deutschförderung zum Zug. Die behandelten Geschichten werden in Klassengesprächen besprochen und in Diskussionen ausgeleuchtet. Darüber hinaus haben die Jugendlichen wöchentliche Zusammenfassungen und Berichte über das Gelesene zu schreiben. Die Schüler erhalten nach kürzester Zeit die korrigierten Texte zurück und schreiben sie in Reine.

Diese aufwändige Arbeit ist nur möglich, weil sich die zusätzlich am Projekt mitwirkenden Lehrpersonen an den Korrekturarbeiten beteiligen. Neben dieser Knochenarbeit unternimmt das Team sehr viel, um das Lesen als spannendes Abenteuer darzustellen und die Schüler fürs Lesen zu begeistern. Das Interview ist eine Fundgrube für Schulen, welche die Leseförderung attraktiv gestalten möchten.

Steht die schulische Digitalisierung vor einer Wende?

Schon oft haben Autoren in unserem Newsletter vor übertriebenen Erwartungen bei der Digitalisierung der Volksschule gewarnt. Diese Aufklärungsarbeit ist herausfordernd, denn die Versprechungen der Softwareanbieter sind äusserst verlockend. Digitale Bildungsprogramme scheinen genau das Richtige zu sein, um den Anspruch eines Lernens in individuellem Tempo erfüllen zu können. Auch viele Lehrpersonen erhoffen sich von einer weitgehenden Digitalisierung eine wesentliche Entlastung im Unterricht mit heterogenen Klassen.

Doch der Trend zur umfassenden Digitalisierung der Schulen hat einen weiteren empfindlichen Dämpfer erhalten. Untersuchungen an schwedischen Schulen durch die renommierte Stockholmer Universität haben ergeben, dass Primarschulen mit einem hohen digitalen Ausbaustandard in wesentlichen Bildungsbereichen eher schlechter abschneiden. Die Schüler haben Mühe mit dem Lesen an Bildschirmen und das Ablenkungspotenzial der digitalen Geräte ist enorm. Es erstaunt daher nicht, dass die digitalen Pionierländer Schweden und Finnland im Unterricht wieder Bücher statt Laptops verwenden wollen und die Wirksamkeit des digitalen Lernens sehr viel kritischer sehen.

Unter dem Titel «Alle mal runterfahren!» kommen drei NZZ-Redaktorinnen in einem doppelseitigen Bericht zu einem ähnlichen Schluss über unseren überbordenden Gebrauch digitaler Geräte. Dabei geht es auch um die heikle Frage, wieweit Digitalisierung in den Primarschulen überhaupt nötig ist. Der topaktuelle Beitrag zeigt eindrücklich, welch ungesundes Ausmass die Verwendung digitaler Geräte bei vielen Kindern angenommen hat und welche Gegenstrategien notwendig sind.

Unterschriftensammlung zur Förderklassen-Initiative 

Als Schlusspunkt finden Sie einen Unterschriftenbogen zur Unterzeichnung der Zürcher Förderklassen-Initiative. Wenn Sie finden, dass Schulen im Kanton Zürich die Möglichkeit haben sollten, unter finanziell fairen Bedingungen Förderklassen zu führen, können Sie den Bogen ausdrucken und unterschreiben. Die Redaktion unterstützt das Anliegen, das mithilft, eine empfindliche Lücke in unserem Schulsystem zu schliessen. Berechtigt zum Unterschreiben sind alle Stimmberechtigten im Kanton Zürich.

Unser nächster Newsletter erscheint erst in einem Monat, da unser unersetzlicher «Blattmacher» Ruedi Richner für einmal ferienhalber abwesend ist.

Hanspeter Amstutz