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Newsletter vom 8. 10. 2023

Unsere Jugend fördern – aber wie?

Unsere Jugend fördern – aber wie?

Zum Einstieg ein munterer Aufsteller: Plädoyer eines Gymi-Lehrers am Kollegium Spiritus Sanctus in Brig für eine Schweiz der vielfältigen Kulturen und Meinungen, zu der eine intolerante und humorlose «woke Cancel Culture» ganz einfach nicht passt. Ein Text zum Geniessen und Schmunzeln.

Dauerbrenner «Berufslehre oder Gymnasium?»

Filippo Leutenegger, Zürcher Stadtrat und Schulvorstand, zielt mit seinem wilden Befreiungsschlag zugunsten der Berufslehre leider ziemlich daneben. Laut «20 Minuten» will er die Berufslehre und die Sekundarschule durch die Abschaffung des Langzeit-Gymnasiums aufwerten. Er möchte erreichen, dass alle Jugendlichen in der Sek die Gelegenheit hätten, Schnupperlehren zu machen. Als zusätzliches Zückerli schlägt Leutenegger acht Wochen Ferien für Lehrlinge vor. Eine Jekami-Wunschliste, für die der Zürcher Stadtrat gar nicht zuständig ist und die zudem weit an der Wirklichkeit vorbeizielt.

Vielleicht sollten die Damen und Herren unserer Bildungsbehörden unsere Newsletters lesen. Sie könnten zum Beispiel von Carl Bossard erfahren, warum viele Eltern ihre Kinder so früh wie möglich aus der Volksschule herausnehmen wollen und warum Nachhilfe- und Gymi-Vorbereitungskurse boomen. Die Antwort ist ganz einfach und doch ein Hammer. Eltern, die miterleben, dass ihre Tochter oder ihr Sohn die unerlässlichen schulischen Grundlagen in der Primarschule nicht lernen, wollen in der Regel nicht weitere drei Jahre zuschauen und abwarten, sondern handeln lieber schon heute. Lesen Sie selbst – Carl Bossards engagierte Schilderung geht einem unter die Haut. Am schlimmsten ist seine Erinnerung daran, dass die Chancengleichheit, der Urgrund der Schweizer Volksschulen, immer mehr an Boden verliert.

Aus einem anderen Blickwinkel geht der Wirtschaftsexperte Rudolf Strahm an die Frage «Berufslehre oder Gymnasium» heran. Er befasst sich mit dem Fachkräftemangel, den er nicht nur bei akademischen Berufen, sondern besonders auch bei Absolventen einer höheren Berufsbildung verortet. Interessant sind auch die kritischen Bemerkungen des früheren SP-Politikers zur Personenfreizügigkeit mit der EU, die zwar über den Themenbereich unseres Newsletters hinausgehen, aber trotzdem lesenswert sind.

Inklusive Schule und Förderklassen: Eine vertiefte Lehrerbildung tut not

Im Kanton Zürich steht eine Volksinitiative kurz vor der Lancierung, die allen Kindern bei Bedarf den Zugang zu heilpädagogisch geführten Förderklassen ermöglichen will. Dabei soll die Durchlässigkeit zwischen Förderklassen und Regelklassen gewährleistet sein, und die Klassen sollen möglichst im selben Schulhaus untergebracht werden. Im Zusammenhang damit sind mehrere Beiträge und Leserbriefe erschienen.

Ein Bravo! gebührt den beharrlichen Leserbriefschreibern wie Hans-Peter Köhli und Max Knöpfel, die seit langem die Wiedereinführung von Kleinklassen fordern. Ihnen geht es nicht darum, «störende» Kinder zu separieren, sondern im Gegenteil, allen Kindern die ihnen zustehende Bildung zu ermöglichen. Christoph Suter von der Zürcher Hochschule für Heilpädagogik vertritt dagegen die Ansicht, die gelingende Integration in der Regelklasse sei für alle Kinder am vorteilhaftesten und bereite sie auf eine Zukunft in einer demokratischen Gesellschaft am besten vor. Leserbriefschreiberin Eliane Perret hält die Idee der Integration aller Kinder in die Regelklassen grundsätzlich für richtig, weist aber darauf hin, dass es mit den heutigen individualisierenden Lehrmethoden nicht möglich ist, allen Kindern gerecht zu werden. Dies kann nur gelingen, wenn die Lehrerin ihre Klasse beim gemeinsamen Erarbeiten und Vertiefen des Lernstoffes anleiten und eine Klassengemeinschaft schaffen kann.

Die Crux liegt vor allem bei der heutigen Lehrerbildung: Zum Coach und Klassenmanager ausgebildete Lehrkräfte können die pädagogischen Herausforderungen im Klassenzimmer nicht bewältigen. Sowohl Integrationsklassen als auch kleine Förderklassen benötigen pädagogisch beziehungsweise heilpädagogisch gründlich ausgebildete Lehrkräfte, die gelernt haben zu unterrichten und ihre Schüler einfühlsam ins Lernen einzuführen. Weder die Pädagogischen Hochschulen noch die Hochschulen für Heilpädagogik legen heute die pädagogischen, psychologischen und didaktischen Grundlagen dafür. Dies ist die nächste Riesenbaustelle, die es anzugehen gilt.

Menschenrecht auf gleiche Bildungschancen: Was bedeutet das?

Wieder einmal behauptet ein Vertreter einer Behindertenorganisation: «Die inklusive Schule ist ein Menschenrecht». Nebelspalter-Redaktor Daniel Wahl setzt dem Geschäftsleiter von agile.ch, Raphaël de Riedmatten, entgegen, dass die UNO-Behindertenrechtskonvention keine Inklusion aller Kinder im selben Raum vorschreibt, sondern die Förderung der einzelnen Kinder ihren Bedürfnissen entsprechend. De Riedmatten beharrt darauf, dass «Kinder mit Behinderungen im falschen Setting sind – in Sonderklassen und vor allem in Bildungseinrichtungen, die sie ausgrenzen.» Heute hören wir allerdings immer häufiger von Schülern mit Behinderungen, die sich gerade in der Regelklasse nicht dazugehörig fühlen, weil dort kein Klassenunterricht stattfindet, in dem sie sich einbringen und mit ihren Mitschülern gemeinsam lernen können.

Zahlreiche Menschen, die er kenne, so de Riedmatten, hätten wegen ihrer Einweisung in eine Sonderschule nie eine Chance gehabt zur beruflichen Eingliederung. Meine eigenen Erinnerungen gehen zurück auf frühere Lehrerinnen der Sonderklassen A, wo Schulanfänger unter geduldiger und fachkundiger Anleitung den Erstklassstoff in zwei Jahren erarbeitet haben: Praktisch alle Kinder konnten danach in die zweite Regelklasse übertreten und die Schule erfolgreich durchlaufen. Ohne die Sonderklasse A hätten viele der Kinder vermutlich bereits am Beginn ihrer Schulzeit den Anschluss verpasst und nie eine Chance im Berufsleben erhalten.

Bei der Lektüre des immer wieder angeführten Artikels 24 des «Übereinkommens der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen» kann ich keine Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Schulung aller Kinder im selben Raum erkennen. Ziel der Bildung für alle muss vielmehr sein, dass jedes die Chance zu einer seiner Persönlichkeit entsprechenden optimalen Bildung hat und gleichzeitig den Kontakt zu seinen gleichaltrigen Gspänli behalten kann. Überzeugen Sie sich selbst: Den ganzen Artikel 24 finden Sie hier

«Mehr Feder und Bleistift statt Tablet»

Es folgt ein ermutigender Bericht aus Schweden, wo die Bildungsministerin gemerkt hat, dass die Kinder in der Volksschule Bücher lesen und von Hand schreiben sollten, damit die zunehmende Leseschwäche gestoppt werden kann. Denn siehe da, ein angesehenes schwedisches Forschungsinstitut hat entdeckt, dass «digitale Geräte … das Lernen der Schüler eher einschränken statt fördern», und es rät, «Wissensaneignung solle daher besser durch gedruckte Schulbücher und die Expertise der Lehrerinnen und Lehrer erfolgen». Wenn auch sogleich «Warnungen» aus der IT-Lobby laut werden – lassen wir unsere Jugend wieder lesen und schreiben lernen!

Eine brandaktuelle Kurzmeldung im Tagi berichtet vom Handyverbot in den Schulen Manchesters. In einem sehr zu empfehlenden NZZ-Artikel zur «digitalen Verzichtskultur» nennen die beiden Experten Christian Montag und Klaus Zierer eine ganze Reihe Argumente für ein Handyverbot, weisen aber auch auf den sinnvollen Gebrauch digitaler Geräte im Unterricht hin. Für uns Erwachsene – nicht nur die Lehrer, sondern auch die Eltern – stellt sich dabei die wesentliche Frage, was wir unseren Kindern sonst anzubieten haben. «Stattdessen ist ein Raus in die Natur, Spiel und Sport in der Mannschaft, handgemachte Musik und Kunst, Diskussionen und Theater, Handwerk und Gartenarbeit wichtiger denn je», so die beiden Autoren.

Recht haben sie, aber übernehmen wir Erwachsenen unseren Teil bei diesem Programm? Erinnern Sie sich an die Plakataktion vor einigen Jahren irgendwo in Deutschland: «Heute schon mit Ihrem Kind gesprochen?» Das kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich eine Mutter mit dem Jüngsten im Kinderwagen und dem älteren Kind daneben sehe, die auf ihrem Smartphone herumklickt oder lange Telefonate führt. Das Schlimme daran: Oft sieht man es den Kindern an, dass sie den Zustand des fehlenden zwischenmenschlichen Austausches bereits gewohnt sind. Sie versuchen nicht einmal mehr, die Aufmerksamkeit der Mutter oder des Vaters zu bekommen. Oder, noch schlimmer, sie werden bereits im Kinderwagen mit einem Kinderprogramm auf dem Handy beschäftigt. Tatsache bleibt: Die beste Prävention gegen das Versinken im digitalen Rausch ist das Vorbild der Eltern und Lehrer. Es braucht keine grossen Events, sondern einfach den Einbezug der Kinder in den Alltag der Mutter, oder des Grossvaters, oder der Leiterin der Spielgruppe, oder wer auch immer mit dem Kind den Tag verbringt. Beim Reden über das Kuchenbacken oder Einkaufen oder beim Beobachten einer Schnecke oder eines Vogelhäuschens erwacht nicht nur das Interesse an der Umwelt, sondern auch der Wortschatz entwickelt sich rasant. Das muss nicht einmal in deutscher Sprache sein: Eine gute Sprachbildung in einer anderen Muttersprache bildet das Fundament auch für die deutsche Sprache.

Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre

Marianne Wüthrich