Springe zum Inhalt

Newsletter vom 6. November. 2022

Fatale Irrwege bei der Förderung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler

In seinem prägnanten Startbeitrag setzt sich Carl Bossard gründlich mit der Frage der Chancengerechtigkeit in der Volksschule auseinander. Der Autor kommt zum Schluss, dass die breit angestrebte Förderung von sozial benachteiligten Kindern mit Methoden des eigenverantwortlichen Lernens zum Scheitern verurteilt ist. Der Widerspruch zwischen der allgegenwärtigen Förderrhetorik und den negativen Auswirkungen der neuen Lernkonzepte auf schwächere Schüler ist eklatant. Die ungenügenden Resultate von Kindern mit bildungsfernem Hintergrund bei verschiedenen Leistungserhebungen sprechen eine zu deutliche Sprache, um alles sofort wegwischen zu können. Für eng mit der Schulpraxis verbundene Didaktiker ist der Qualitätsverlust allerdings alles andere als eine Überraschung.

Bildungsferne Kinder benötigen Führung und ermutigende Zuwendung

Kinder aus sozial benachteiligtem Milieu grundlegend zu fördern, ist eine grosse Herausforderung für unsere Volksschule. Umso erfreulicher ist es, dass es vielen Lehrpersonen gelingt, sozial benachteiligte und schwächere Kinder zum schulischen Erfolg zu führen. Geschickte Lehrerinnen und Lehrer wissen, worauf es ankommt. Zuerst gilt es, sich aufs Wesentliche des Schulstoffs, auf den Kern eines Lernprozesses zu konzentrieren. Die Lernvorgänge müssen anschaulich, in kleine Schritte unterteilt und bei Schwierigkeiten den Schülern in angepasster Weise nochmals erklärt werden. Von Beiwerk befreite Modellvorstellungen wie beispielsweise das Grundschema eines Dreisatzes helfen mit, das Vertrauen der Kinder in ihren eigenen Verstand zu stärken. Diese Einführungsphase braucht Zeit und Musse, denn sie ist eine Weichenstellung für den weiteren Erfolg. Dann folgt das wichtige gemeinsame Üben, das den Schülern Sicherheit vermittelt, ihr Denken erweitert und Mut vermittelt. Diese zentralen Phasen des Lernens finden in der Regel unter klarer Führung der Lehrerin im Klassenverband statt und sie werden erst nach und nach durch Partner- und Einzelarbeit abgelöst.

Entpersonifiziertes Lernen ist ein gescheiterter Weg der Didaktik

Bestens bewährte Methoden wurden in den letzten Jahren als altmodisch taxiert und durch Wege des eigenverantwortlichen Lernens abgelöst. Dabei soll das schulische Lernen zu grossen Teilen entpersonifiziert werden, wie Carl Bossard zusammenfassend festhält. Vielleicht kann man mit folgendem Beispiel illustrieren, was damit konkret gemeint ist:

Schülerinnen und Schüler sollen mithilfe geeigneter Lernmaterialien mathematische Gesetzmässigkeiten zur Proportionalität selbst entdecken. Einige kommen mit den schriftlichen Anleitungen rasch voran, andere brauchen schon in der Startphase die Hilfe des Lehrer-Coaches, der kaum Zeit findet für all die dringenden Interventionen. Für die Aufgeweckten ist es ein erhebendes Gefühl, wenn sie ganz allein herausfinden, wie eine Dreisatzaufgabe mit umgekehrten Verhältnissen zu lösen ist. Doch für mehr als die Hälfte der Klasse endet die Entdeckungstour in Frustration. Sie verstehen grundlegende Schritte nicht und Scheitern schon vor dem Erreichen des ersten Kompetenzziels.

Fixiert auf einen Bildschirm oder gar abgeschottet in einer Lernbox fehlt den Lernenden das anregende Umfeld einer aktiven Klassengemeinschaft. Es fehlt die von einer voll präsenten Lehrerin ausgestrahlte Zuversicht, dass jedes Hindernis überwunden werden kann, wenn man konzentriert bei der Sache ist. Individuelles Lernen stützt sich auf Selbstdisziplin, starkes Selbstvertrauen und ausgeprägte kognitive Fähigkeiten. Doch genau diese Eigenschaften besitzen Schüler aus sozial benachteiligten Milieus nur zum Teil. Es überrascht deshalb nicht, dass sich viele bei ihren Entdeckungsfahrten im Stich gelassen fühlen.

Überzeugender «Oberbandenführer» als Kulturvermittler

Die Vorstellung, Lehrpersonen könnten souverän aus dem Hintergrund eine Klasse steuern, ist eine akademische Kopfgeburt. Bildungsferne Schüler fühlen sich rasch unwohl, wenn sie keine klar ersichtliche Autorität im Schulzimmer vorfinden. Sie reagieren mit Unruhe, stören den Unterricht und bringen im ungünstigen Fall ganze Klassen durcheinander. In seinem unkonventionellen Beitrag spricht Allan Guggenbühl von einem «Oberbandenführer», der überzeugend vorangeht. Dieser gestaltet den Unterricht mit Erzählungen, mit spannenden technischen Experimenten und offenen Klassengesprächen über wichtige Themen.

Bildungsferne Jugendliche gewinnt man durch die klare Botschaft, dass das aktuelle Thema für die ganze Klasse von zentraler Bedeutung ist. Man lebt für ein paar Wochen in der Zeit der Pfahlbauer, man ist im Sommer ganz bei den Amphibien im Waldweiher und man setzt sich beim Bau von Heissluftballonen und Flugzeugen voll mit der Luftfahrt auseinander. Bildungsferne Kinder erfahren so, dass Bildung spannend, wesentlich und ermutigend fürs Leben ist.

Lehrer, welche der Autoritätsfrage ausweichen, weil sie das engagierte Vermitteln von bedeutenden Bildungsinhalten aus intellektuellen Selbstzweifeln ablehnen, kommen bei bildungsfernen Schülern in der Regel gar nicht gut an. Pubertierende verschiedenster Herkunft wollen von kompetenten Lehrern durchaus hören, wie die Welt beschaffen ist und was sie im Innersten zusammenhält. Ihre jugendliche Energie ist gross genug, um danach zu sagen, was sie falsch finden und was sie ganz sicher anders machen werden als die alte Generation. Es ist ein gewaltiger Irrtum zu glauben, Jugendliche müssten sich ihr Weltbild möglichst ohne Hilfe von Erwachsenen selbst konstruieren. Diese Anti-Pädagogik verkennt die entwicklungspsychologische Situation von Heranwachsenden und verbaut Jugendlichen aus bildungsfernen Familien den schulischen Aufstieg.

Offene Fragen zum Einsatz unausgebildeter Personen im Schuldienst

Zwar sind alle Lehrerstellen im Kanton irgendwie besetzt, doch ohne den Einsatz von unausgebildeten Personen und vielen Quereinsteigenden könnte der Schulbetrieb nicht mehr in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zurzeit beschäftigt die Politik vor allem die Frage, ob Personen ohne minimale Lehrerbildung mehr als ein Jahr im Schuldienst eingesetzt werden können. Der Kantonsrat möchte deren Einsatzdauer verlängern, wenn sie mit Erfolg unterrichtet haben. Doch die Zürcher Bildungsdirektion hat noch keinen Plan, wie das entsprechende berufsbegleitende Ausbildungskonzept überhaupt aussehen soll.

Berichte über den Einsatz von Lehrpersonen ohne Diplom gibt es bereits einige. Die von uns ausgewählten Texte kommen zu einer durchzogenen und unserer Meinung nach etwas voreiligen Bilanz. Einerseits machen unausgebildete Lehrpersonen mit ihrem aussergewöhnlichen Engagement und ihrer Berufserfahrung aus ganz anderen Lebensbereichen manches wett, was ihnen an fachlicher Kompetenz fehlt. Andererseits bedeutet das Mitwirken dieser neuen Lehrkräfte eine Belastung für jedes Schulteam. Die Situation bleibt unbefriedigend und kann auf Dauer sicher nicht akzeptiert werden.

Bunte Blüten der Stadtzürcher Begabtenförderung und tolle Leserbriefe

Das Schlussbouquet bilden ein widersprüchlicher Tagi-Bericht aus dem Stadtzürcher Gemeinderat und treffende Leserbriefe zur gegenwärtigen Schulkrise. Man erfährt dabei, warum die Idee der Begabtenförderung im Parlament so uminterpretiert wurde, dass von einer Förderung der Begabtesten keine Rede mehr sein kann. Die Leserbriefe unseres Kollegen Hans Peter Köhli halten in überzeugender Manier fest, was an unseren Schulen schiefläuft und wo der Hebel für Verbesserungen angesetzt werden muss.

Wir sind überzeugt, dass Sie bei der Lektüre voll auf Ihre Rechnung kommen werden.

Für die Redaktion der Starken Volksschule Zürich

Hanspeter Amstutz