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Newsletter vom 24. 4. 2022

In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Schulpraktiker

Jahrelang versuchte die Zürcher Bildungsdirektion den chronischen Lehrermangel in der Volksschule kleinzureden. Doch letzte Woche erfolgte eine radikale Kehrtwende. Aufgrund der dramatisch verschlechterten Personalsituation erging ein eigentlicher Hilferuf an alle, die sich pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vorstellen können. Selbst Unausgebildete sollten sich für den Schuldienst zur Verfügung stellen, sofern sie sich die herausfordernde Aufgabe zutrauten. Dieses Versagen vorausschauender Bildungspolitik ist in neuerer Zeit wohl beispiellos.

Hausgemachte Gründe für den Lehrermangel sind offensichtlich

Die Reaktionen in der Presse auf das konzeptlose Agieren und die zunehmenden Burnouts in der Lehrerschaft liessen nicht lange auf sich warten. Scharf formulierte Leserbriefe erschienen im Tages-Anzeiger und in der NZZ. Wir haben vier Texte ausgewählt, die in wenigen Worten die Missstände anprangern, welche zur aktuellen Entwicklung geführt haben. Für die Leserbriefschreiber ist die überproportionale Zunahme der Schülerzahlen in den letzten Jahren kein ausreichender Grund, um den grossen Lehrermangel zu erklären.  Hans-Peter Köhli, Max Knöpfel und Christian Hafner kritisieren zu Recht, dass sich die dramatische Entwicklung längst abgezeichnet hat und für den Lehrermangel eine Reihe hausgemachter Ursachen vorliegen. Sie erwähnen die gestiegene Grundbelastung in den Regelklassen, weil die Kleinklassen abgeschafft wurden. Sie sehen im überladenen Lehrplan, in der Verzettelung auf zu viele Bildungsziele und in der oft praxisfernen Lehrerbildung die stärksten Belastungsfaktoren.

Die kantonalen Bildungsdirektionen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass es den Verantwortlichen an Entschlossenheit mangelt, bei gewissen Schulprojekten endlich zu einem Abschluss zu kommen. Was wurde nicht schon alles geschrieben über die Integration verhaltensauffälliger Schüler in Regelklassen! Jahr für Jahr wird die Lehrerschaft vertröstet, dass man das komplexe Fördersystem verbessern und versuchen werde, mehr Heilpädagoginnen einzusetzen. Doch dass dies in Zeiten des Lehrermangels Luftschlösser sind, ist allen klar. Licht ins Dunkel dieses Integrationsdschungels bringt hingegen das Standardwerk von Beat Kissling über die Möglichkeiten und Grenzen der Inklusion. Carl Bossard stellt uns das Buch vor und lobt die differenzierte und praxisverbundene Auseinandersetzung des Autors mit dem umstrittenen Thema. Hervorzuheben ist sicher dessen zentrale These, dass bei einer zu grossen Zahl an verhaltensauffälligen Schülern auch bei grösstem Einsatz der Klassenlehrer die Integration zum Scheitern verurteilt ist. Das empfehlenswerte Standardwerk weist einen erfolgversprechenden Weg, um die blockierenden Dogmen in der Integrationsfrage endlich zu überwinden.

Gefragt ist zupackendes Engagement und Besinnung aufs Wesentliche

Um in diesen aufwühlenden Zeiten die Qualität unserer Volksschule zu erhalten, braucht es ein aussergewöhnliches Engagement der Lehrerinnen und Lehrer. Die meisten arbeiten nicht erst seit Corona weit mehr, als dies der kleinkarierte Berufsauftrag vorschreibt. Würde man die Überstunden am Jahresende kompensieren, könnten einige bereits im November in die Ferien gehen. Der Aufruf zur Unterstützung der Schulen verhallt zum Glück nicht ungehört. Manch pensionierter Lehrer übernimmt in seiner ehemaligen Schule eine verwaiste Klasse. Lehrerinnen erhöhen trotz Familienpflichten ihr Pensum oder springen spontan für eine erkrankte Kollegin ein. Erfahrene Kolleginnen unterstützen mit Rat und Tat Studierende, die vorzeitig in Vikariaten eingesetzt werden. Bei den Schulleitungen hat man gemerkt, dass gut qualifiziertes und zupackendes Personal weit wichtiger ist als die Lenkung des Bildungsgeschehens durch ausgeklügelte Lernprogramme und zeitraubende Lehrplan-Weiterbildungen. In der Praxis muss die Spreu vom Weizen geschieden werden, wenn die Schulen die Krise unbeschadet überleben wollen. Schulpraktiker geniessen wieder sehr viel mehr Kredit, und das ist gut so. Jetzt bietet sich die Chance, die Schulen pädagogisch und inhaltlich wieder aufs Wesentliche auszurichten.

Die Bildungspolitik muss endlich ihre Hausaufgaben lösen

Und was tun lautstarke Bildungspolitiker in dieser wichtigen Phase? Einige schweigen, und das ist nicht einmal das Dümmste. Doch ihre Aufgabe wäre es eigentlich, all die Hemmnisse in den Schulen abzubauen, welche das tägliche Unterrichten erschweren. Dringend nötig wäre ein schonungsloses Überprüfen umstrittener Reformen und aufwändiger administrativer Massnahmen der letzten Jahre. Und nicht zuletzt wäre es auch die Aufgabe einer mutigeren Bildungspolitik, den Ursachen des Lehrermangels auf den Grund zu gehen.

Ein Blick auf das Gesamtsystem unseres Bildungsangebots zeigt, dass auch die KV-Schulen in einer turbulenten Phase stecken. Dieser wichtige Zweig des dualen Berufsbildungssystems ringt je länger je mehr um begabte Schülerinnen und Schüler, die zwischen KV-Lehre und Gymnasium schwanken. Doch die Bildungsverantwortlichen sind drauf und dran, die Weichen mit der neuen KV-Reform falsch zu stellen. Statt in Leistungsfächern die Jugendlichen gründlich auszubilden, werden schwammige Konzepte mit Modulen für situatives Verhalten entwickelt. Erfahrene KV-Lehrpersonen sind entsetzt über die unausgegorene Reform. Sie befürchten wohl zu Recht einen massiven Abbau an Schulqualität. Interessant ist, dass die Banken beim neuen Modell ausscheren und weiterhin an einem fächerorientierten Unterricht festhalten.

Die Stärkung der Berufsbildung bleibt eine Herausforderung

Vielleicht hilft ein Blick über die Grenzen, um fatale Entwicklungen im Bildungsbereich noch zu verhindern. Im Beitrag von Hans Peter Klein wird der Abbau des Leistungsdenkens und die Verwässerung der Anforderungen an den Mittelschulen beklagt. Die Zunahme der deutschen Abiturientenquote auf rund 50 Prozent hat zu einer höchst unerfreulichen Abwertung der Berufsbildung geführt. Universitäre Ausbildungen sind das Ziel, handwerklich-technische Berufe gelten als zweite Wahl. Die Schweizer Bildungspolitik müsste durch die hohe Arbeitslosigkeit in Ländern mit leichtem Zugang zu den Gymnasien und tiefem Sozialprestige der Berufslehren gewarnt sein. Besser als eine Erhöhung der Maturitätsquote ist eine Aufwertung der Berufslehren vom KV bis zur Schreinerlehre, denn ohne hervorragend ausgebildete Berufsfachleute kann unsere Wirtschaft ihre starke Stellung nicht behaupten.

Liebe Leserin, lieber Leser, wir hoffen, dass wir Sie mit den kämpferischen Botschaften unserer Beiträge ermutigen können, in Bildungsfragen an guten Lösungen mitzuarbeiten oder gar politisch aktiv zu werden. Unsere Schulen stehen an einem Wendepunkt. Da ist jede Stimme der pragmatischen Vernunft hoch willkommen.

Für die Redaktion der Starken Volksschule des Kantons Zürich

Hanspeter Amstutz