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Newsletter vom 7. 11. 2021

Offen darüber reden, worauf es in der Schule wirklich ankommt

Ich muss gestehen, dass mich der letzte Satz im einleitenden Leserbrief elektrisiert hat. Da schreibt eine mir unbekannte Leserbriefautorin: «Es wäre wichtig zu erfahren, was die Lehrpersonen wirklich denken und welche Sorgen sie belasten.» Der Satz ist sozusagen die Pointe ihres kurzen Textes, welcher die tieferen Ursachen der Unzufriedenheit an zahlreichen Schulen anspricht.

Völlig unterschiedliche Bewertung der Wirkung von Reformen

Informationen über das Schulgeschehen drehen sich selten um das Kerngeschäft des alltäglichen Unterrichtens. Über innovative Neuerungen zu berichten ist weit aufregender. Offensichtlich gibt es eine erhebliche Diskrepanz bei der Einschätzung des pädagogischen Mehrwerts mancher Reformen zwischen den Vorstellungen der Schulpraktiker und den Bildungsplanern. Während der neue Lehrplan weitherum als grosser Fortschritt für die Volksschule gepriesen wird, sehen das die meisten Lehrpersonen viel nüchterner. Überladen, viel zu detailliert, kaum geeignet um als praktischer Bildungskompass verwendet werden zu können, lautet das Urteil in Lehrerkreisen. Dennoch mussten die Lehrpersonen Tage damit verbringen, um in die Theorie der Lernsteuerung durch unzählige Kompetenzziele eingeweiht zu werden.

Der fragwürdige Aufwand rund um den Lehrplan ist nur ein Beispiel aus einer ganzen Reihe von Reformen, welche bei weitem nicht gehalten haben, was versprochen wurde. So ist aus einem ursprünglich zur Entlastung der Lehrpersonen gedachten Berufsauftrag ein bürokratisches Führungsinstrument geworden. Ähnlich verhielt es sich mit der gutgemeinten Idee der vollen Integration aller Schüler in die Regelklassen. Das aufwändige Konzept hat dazu geführt, dass unterdessen in manchen Klassen infolge der ausgeweiteten Heterogenität die Leistungen gesunken sind. Man könnte noch vieles aufzählen, was schief gelaufen ist und welche Dauerbaustellen die Schule belasten.

Wenig kämpferische Mitgliederbasis schwächt Position der Lehrerverbände

Manche fragen sich, weshalb denn so wenig von den alltäglichen Schwierigkeiten in den Schulzimmern an die Öffentlichkeit dringt. Selbstkritisch muss sich die Lehrerschaft heute eingestehen, dass sie es verpasst hat, die Prioritäten bei den Reformen aus Sicht der Schulpraxis mit klaren Worten zuhanden der Bildungspolitik zu benennen. Bei den meisten Lehrerorganisationen fehlte der Mut, in entscheidenden Momenten auf Konfrontationskurs zu gehen, wenn dies aus sachlichen Gründen unvermeidbar war. Die Verbände stellten zwar lange Forderungskataloge zusammen, doch der Wille dafür hart zu kämpfen, war wenig ausgeprägt. Der Grund für diese Schwäche dürfte darin liegen, dass in der personellen Zusammensetzung der Mitgliederbasis entscheidende Veränderungen eingetreten waren. Viele Lehrerinnen und Lehrer arbeiten nur noch Teilzeit und das veränderte Lehrerbild des Betreuers findet bei Persönlichkeiten mit Führungsqualitäten deutlich weniger Anklang. Der Wille, für bedeutende Anliegen aus der Schulpraxis auch politisch einzustehen, hat abgenommen. Das Risiko, mit kritischen Äusserungen bei Schulleitungen und Behörden Ärger zu bekommen, ist den meisten zu hoch.

Entschlossenes und mutiges Auftreten lohnt sich

Doch es geht durchaus auch anders. Wo Lehrerteams entschlossen in pädagogischen Fragen auftreten, kann sich viel bewegen. Es braucht dafür keine Helden, die sich in die Bresche schlagen, sondern Solidarität unter den Kolleginnen und Kollegen. Die jüngsten Erfolge bei den Fremdsprachenlehrmitteln in Bern und in der Nordwestschweiz zeigen, wie sehr Entschlossenheit von Lehrerorganisationen und mutiges Auftreten engagierter Lehrerpersönlichkeiten die Politik zum Handeln zwingen können. Mit dem Condorcet-Blog und den «Starken Schulen» in mehreren Kantonen haben sich kämpferische Organisationen die Ermutigung der Lehrerschaft auf die Fahnen geschrieben. Diesen Erfolg versprechenden Weg des Offenlegens der schulischen Herausforderungen und der Unterstützung der Lehrerschaft gilt es konsequent weiterzugehen.

Chancengerechtigkeit und ein grosser Pädagoge als Schwerpunktthemen

Nach dieser etwas langen Einleitung kommen wir zu den zentralen Beiträgen unseres Newsletters. Die ersten vier setzen sich alle mit der viel diskutierten Frage der Chancengerechtigkeit in unserem Schulsystem auseinander. Einmal mehr macht Carl Bossard mit einem brillanten Essay über die grosse Bedeutung von Lehrerpersönlichkeiten für die Förderung benachteiligter Jugendlicher den Auftakt. Der Autor zeigt auf, dass mit starken Lernbeziehungen weit mehr erreicht wird als mit strukturellen Massnahmen oder digitalen Förderprogrammen. In den anschliessenden Beiträgen in Form eines Kommentars zum Essay, einer Zusammenfassung wertvoller pädagogischer Einsichten und eines Textes über die Bedeutung einer soliden Arbeitshaltung wird die Chancengerechtigkeit noch aus anderen Blickwinkeln beleuchtet.

Den zweiten Schwerpunkt bildet ein faszinierender Einblick von Peter Aebersold in das Leben des grossen Pädagogen Comenius. Der böhmische Gelehrte hat mit seinen Schriften über anschauliche Didaktik und seinen kindgerechten Sprachlehrmethoden bahnbrechende Vorarbeiten für die spätere Volksschule geleistet. Es lohnt sich, die Zeit zu nehmen, um mit Peter Aebersold in die Welt des bei uns leider wenig bekannten Comenius einzutauchen.

Bildungspolitisch interessant ist der Schlussbeitrag zur Zunahme der Schülerzahlen in den kommenden Jahren. Welche Auswirkungen dies auf die Gymnasien hat, finden Sie im Text über ein Schulprovisorium in der Stadt Zürich.

Wir wünschen Ihnen ein spannendes Lesevergnügen.

Für die Redaktion der Starken Volksschule Zürich

Hanspeter Amstutz