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Newsletter vom 10. 10. 2021

Wenn technische Potenziale Realitäten schaffen, die wir später bereuen werden

Geschätzte Leserinnen und Leser

Während nun definitiv die Blätter von den Bäumen fallen, flattert Ihnen mit diesem «Blatt» eine Palette spannender und teils kontroverser Inhalte in die Mailbox. Der Titel des Vorwortes ist bewusst provokativ gestaltet. Die dadurch erzeugte gedankliche Hitze hilft nicht nur gegen die herbstliche Nass-Kälte, sie soll auch zur Auseinandersetzung mit der Frage anregen, wohin sich unser Bildungssystem entwickelt und was es aus unseren Kindern machen wird. Lassen Sie sich durch nachfolgende Einschätzung der Newsletter-Inhalte inspirieren. Vorher aber noch in eigener Sache:

Rückblick: Wie viel Digitalisierung in der Schule ist sinnvoll und wo sind die Grenzen?

«Was lange währt…» Nachdem wir im Herbst 2020 aufgrund der Corona-Situation einen Rückzieher machen mussten, konnten wir vergangene Woche den Anlass nun endlich durchführen. Im Zürcher Glockenhof gaben uns die beiden Referentinnen Yasmine Bourgeois und Nina Fehr einen aktuellen Einblick in den Einzug der Digitalisierung in die Schule und zuhause und deren positive wie negative Folgen. Während Kantonsrätin Nina Fehr vor allem aus der Eltern-Perspektive in die Zeit während des Lockdowns zurückblendete, malte Gemeinderätin und Schulleiterin Yasmine Bourgeois den Besuchern den Corona-Schulalltag vor die Augen. Mit zahlreichen erlebten Anekdoten schlugen beide Damen eindeutig in dieselbe Kerbe. Ihr Fazit: Die Digitalisierung an den Schulen sei zwar gut und wichtig, doch nur, wenn sie nicht alternativlos wird und solange sie eine unterstützende Funktion innehat und keine dominierende. Ausserdem waren sich beide einig, dass für den Kindergarten und die Unterstufe Computer ein No Go sind. Der Abend war geschmückt mit einem ausgiebigen Austausch zwischen den Besuchern und Referentinnen. Doch nun zu den Newsletter-Inhalten.

Zur Normalität therapieren

Gleich zu Beginn wird in Carl Bossards Zusammenfassung eines Vortragsabends mit der «Abklärungsmaschinerie» an den Schulen abgerechnet. Während Kinder immer mehr (und dazu noch früher) bestimmten Vorstellungen zu entsprechen haben, wird der Raum für Normalität immer enger – schon fast wie der Binärcode eines Computers, der ja auch nur 0 oder 1 kennt. Während Kinder übertherapiert werden, bleiben Defizite wie Lese- und Rechtschreibeschwäche oftmals unbehandelt.

Von straffreien Erziehungsstätten und demokratischen Schulen

Das Strafen schade den Kindern – so behauptet es zumindest die PHZ-Dozentin Theresa Müller. Nun hat Strafe aber primär einen erzieherischen Aspekt und zielt weniger auf ein schulisches Verhalten ab. Ob Frau Müller mit der Verbannung von Strafen das Kind mit dem Bade ausschüttet? Zwar versucht sie dies zu vermeiden, indem sie am Schluss relativiert, Regeln können ihre Berechtigungen haben – doch nur, hakt sie nach, wenn alle damit einverstanden seien. Ihr Plädoyer hinterlässt gesamthaft den Eindruck, die Kindergärten entwickelten sich immer mehr zu Erziehungsstätten.

Verändern will man die Volksschule zudem zu sogenannt demokratisch funktionierenden Strukturen. Zum Beispiel dadurch, dass Jugendliche in der Rekrutierung von Lehrpersonen mitbestimmen. Wohlbemerkt findet dieses Experiment prompt an den zwei Schulen Anwendung, wo Kinder selbst organisiert lernen. Also dort, wo Lehrer bereits zu Coaches degradiert wurden. Damit schliesst sich auch der Kreis des Demokratieverständnisses für die Schüler, die ihre «Minister» (englisch für Diener) gleich selbst wählen (und konsequenterweise wieder abwählen) können.

«Buy now pay later»

Die ETH-Lernforscherin Elsbeth Stern bringt mit ihren kritischen Voten zum sinnigen und unsinnigen Einsatz von Computern an Schulen frischen Wind auf und warnt vor der Suchtgefahr von Handys, wobei sie dies nicht nur bei Kindern und Jugendlichen feststellt. Doch so gut Kinder beim Lernen durch Computer unterstützt werden, mutieren sie doch unweigerlich zu Überwachungsobjekten, die schubladisiert werden. Beat Döbeli warnt: «Wir dürfen nicht aufgrund von technischen Potenzialen Realitäten schaffen, die wir später bereuen.» Es drohe das vernachlässigt zu werden, was sich mit einem Computer nicht messen lässt: Emotionen, Kreativität und Neugierde, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Der Informatik-Didaktiker bringt es mit folgendem Satz auf den Punkt: «Es braucht eine vertiefte Diskussion der Potenziale und Gefahren, bevor wir solche Systeme im Schulalltag einsetzen.» Der Einsatz ist längst da, der Preis wird früher oder später zu bezahlen sein.

Ich wünsche Ihnen eine angeregte Lektüre!

Timotheus Bruderer

Präsident Starke Volksschule Zürich