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Was man von Schwedens Schule lernen kann

Züriberg 8.11.2018

Nordische Länder gelten für viele Bildungspolitiker als Vorbild. Doch was macht Schweden in seiner Volks- schule anders? Die schwedische Professorin Inger Enkvist informierte Interessierte in Zürich darüber.

Rudolf Richner, Mitglied im Verein «Starke Volksschule Zürich».

Letzten Donnerstag hielt Professorin Inger Enkvist aus Schweden im Pfarreizentrum Liebfrauen vor rund 40 Zuhörenden, darunter Lehrer, Eltern und Grosseltern, einen spannenden Vortrag über die Auswirkungen von 50 Jahren Bildungsreformen in Schweden auf Schule, Familie, Wirtschaft und Gesellschaft. Seit Jahren fordert sie in Schweden eine bessere Qualität des Schulunterrichts.

Buch über schwedische Schulreform geschrieben

In ihrem Buch über die schwedischen Schulreformen übt sie deutliche Kritik. Inger Enkvist geht der Frage nach, wie verschiedene Länder ihr Bildungssystem gestalten und was Schweden von ihnen lernen kann. In ihrem Vortrag wies sie anhand eindrücklicher internationaler Studien auf die Bedeutung der Muttersprache als Grundlage allen Lernens und unserer kulturellen Entwicklung hin. Ebenso wichtig erwies sich die Persönlichkeit der Lehrer und wie sie mit ihren Schülern Beziehung aufnehmen. Studien zeigen auch, dass Kleinkinder, die von ihren Eltern und Beziehungspersonen sprachlich gefördert werden, indem sie viel mit ihnen sprechen und ihnen Geschichten vorlesen, im Alter von drei Jahren dreimal so viele Wörter kennen wie Kinder, mit denen man wenig spricht. Dieser Rückstand gleicht sich bis zum Alter von zehn Jahren nicht mehr aus, er vergrössert sich sogar. Das wirkt sich nach Ingers Aussage auch auf den Erwerb von Frühfremdsprachen aus: Zuerst muss das Kind die Muttersprache gründlich lernen, erst nachher kann es mit den Fremdsprachen darauf aufbauen. Besonders für die Integration von fremdsprachigen Kindern ist das eine wichtige Voraussetzung.

Die Ausführungen von Enkvist zeigten deutlich, dass wir auch in der Schweiz die Studien zum Schulerfolg ernst nehmen müssen. Nur wenn die Erwachsenen, Eltern und Lehrer, die Kinder aktiv in die Welt einführen und nicht nur «begleiten», erhalten sie genug Rüstzeug für die Zukunft.

Die Politik in Schweden hatte Unsummen von Geld investiert, die aber nicht den gewünschten Effekt zur Folge hatten. Schwedens Schüler schnitten nämlich im internationalen Vergleich immer schlechter ab – und zwar auch in den eigentlichen Kernkompetenzen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Der Grund: Die Reformen beraubten Schulen und Lehrkräfte ihrer Freiheit und pressten sie in ein zu enges pädagogisches Korsett. Gleichzeitig schaffte Schweden Schritt für Schritt Sonderklassen ab und integrierte Schüler mit allen möglichen Problemen in Regelklassen, ohne die Folgen zu bedenken. Diese traten schliesslich in den letzten Jahren zutage. Sowohl etablierte Industrie-, als auch Dienstleistungs- unternehmen wanderten ins Ausland ab, weil sie keine geeigneten Arbeitnehmer mehr fanden.

Alle abholen, alle mitnehmen

Die Studien ergaben auch, dass man von einem Text über 90 Prozent der Wörter inklusive Schlüsselwörter und auch ihre Bedeutung kennen muss, um den Inhalt des Textes richtig verstehen zu können. Das erklärt, warum viele Kinder und Jugendliche nicht gerne Bücher lesen, da ihr Wortschatz zu klein ist und sie den Inhalt nicht richtig verstehen.

Weil der Stand der Kinder aus verschiedenen Familienverhältnissen und erst recht von fremdsprachigen Kindern im Zeitpunkt des Schuleintritts sehr unterschiedlich ist, hat die Volksschule die Pflicht, einen intensiven und durch die Lehrerin geführten muttersprachlichen Unterricht für alle anzubieten, so dass der einzelne Schüler bis zum Ende der Schulzeit die Unterschiede kompensieren oder zumindest verringern kann. Dazu gehört das regelmässige Schreiben von Diktaten und Aufsätzen und der stetige Versuch, den Schülern das Lesen in der Freizeit naher zu bringen. Diese grundlegende Aufgabe der Volksschule wird heute grob vernachlässigt: Wer zu Hause nicht gefördert wird, lernt über die ganze Schulzeit hinweg Lesen und Schreiben der Muttersprache nur sehr mangelhaft.