Nicht zu Ende gedacht
Die Bilanz bei den grossen Schulreformen fällt ernüchternd aus
Es ist eine eigentliche Überraschung, dass eine auflagenstarke Zeitung es wagt, die grossen Bildungsreformen der letzten zwanzig Jahre einer Prüfung zu unterziehen. Und noch erstaunlicher ist es, auf welche Weise dies geschehen ist. Im doppelseitigen Beitrag von Nadja Pastega und Armin Müller in der Sonntagszeitung ist keine Spur von billigem Populismus zu finden. Das Autorenteam hat offensichtlich sehr sorgfältig recherchiert und dessen Arbeit überzeugt durch hohe Sachlichkeit.
Fünf Reformen werden im Beitrag auf ihre Wirksamkeit hin genauer beleuchtet. Auffallend dabei ist, dass in allen fünf Grossprojekten sehr vieles nicht zu Ende gedacht wurde. In der euphorischen Reformstimmung nach der Jahrtausendwende wurde fast jedes Reformprojekt freudig und meist kritiklos begrüsst. So galt das Kompetenzmodell des neuen Lehrplans als grosser theoretischer Wurf, dessen Grundkonzept sakrosankt war. Wenn wir die früheren hohen Erwartungen mit den vorliegenden Resultaten aus heutiger Sicht vergleichen, lässt sich Folgendes bilanzieren:
Frühfranzösisch
Eine frühe Mehrsprachigkeit in der Mittelstufe wird als Schlüssel für erfolgreiches Fremdsprachenlernen propagiert. Die Schüler sollen in ein «Sprachbad» eintauchen und sich in jeder Sprache munter unterhalten können.
Bilanz: Mehr als die Hälfte aller Mittelstufenschüler kommt in mindestens einer Fremdsprache (meistens im Französisch) nicht mehr mit und fühlt sich frustriert. Nicht bedacht wurde, dass mit dem Modell einer frühen Mehrsprachigkeit das Bildungsprogramm der Mittelstufe überladen wird und Aufwand und Ertrag in keiner Weise übereinstimmen.
Totalintegration
Alle Schülerinnen und Schüler, auch solche mit kognitiven Beeinträchtigungen und extrem Verhaltensauffällige, haben das Recht, eine Regelklasse besuchen zu können.
Bilanz: Die Heterogenität in manchen Regelklassen übersteigt ein erträgliches Mass und bringt die Klassenlehrerinnen an den Anschlag. Der Ruf nach immer mehr Betreuungspersonal wird für die Schulen finanziell zu einem Fass ohne Boden. Die Herausforderung für die Lehrkräfte durch die Totalintegration wurde völlig unterschätzt.
Lernen im Alleingang
Selbstorganisiertes Lernen gilt als Chance für eine umfassende Individualisierung des Unterrichts. Damit verbunden ist eine Reduktion des gemeinsamen Klassenunterrichts (Frontalunterricht), längeres Arbeiten an digitalen Geräten und ein stark verändertes Berufsbild für Lehrpersonen. Diese sollen die Lernprozesse der Jugendlichen nur noch als Coachs begleiten und für die Organisation von Lernlandschaften zuständig sein.
Bilanz: Mittlere und schwächere Schüler sind mit dem selbstorganisierten Lernen meistens völlig überfordert. Langes Lernen am Bildschirm ist im Vergleich zu einem ermutigenden gemeinsamen Klassenunterricht wenig effizient. Wird das neue System gar radikal umgesetzt, laufen oft ganze Klassen aus dem Ruder.
Lehrplan als Wegweiser
Der Lehrplan 21 gilt als Garant für eine fortschrittliche Entwicklung der Schule. Mit diesem Jahrhundertwerk sollen die Bildungsziele in der ganzen Deutschschweiz vereinheitlicht werden. Statt Bildungsinhalte steht neu der Erwerb nützlicher Kompetenzen im Zentrum. Durch die Festlegung von klar definierten Grundanforderungen und erweiterten Bildungszielen in allen Fächern erhebt der Lehrplan den Anspruch, ein verlässlicher Bildungskompass für jede Schule zu sein.
Bilanz: Der überladene Lehrplan ist in vielen Bereichen völlig abgehoben von der Schulrealität. Mit seinen umständlichen Kompetenzbeschreibungen ist er keine Hilfe für die Lehrkräfte. Diese möchten für den Unterricht eine bessere inhaltliche Orientierung.
Schule ohne Noten
Das jüngste Reformprojekt findet man in der wiederaufgeflammten Diskussion um eine gerechtere Schülerbeurteilung. Nach Meinung eines Teils der Bildungsreformer sollen die Zeugnisnoten durch individuellere Formen einer Beurteilung abgelöst zu werden. Die Forderung ist eine logische Folge aus einem konsequent individualisierten Unterricht, in welchem es schwierig ist, bei unterschiedlichen Leistungszielen vergleichbare Noten zu geben.
Bilanz: Noch ist nichts entschieden, doch die Idee einer Schule ohne Noten ist in keiner Weise zu Ende gedacht. Was anstelle von Noten treten soll, überzeugt überhaupt nicht.
Ungünstiger Einfluss auf die Klassenführung durch blasses Berufsbild
Dank der praktischen pädagogischen Vernunft und des unermüdlichen Engagements unzähliger Lehrkräfte werden die meisten Klassen noch immer gut geführt. Nur ob das auch in Zukunft so bleiben wird, ist eine offene Frage. Die Verunsicherung der Lehrpersonen durch stark umstrittene Lernkonzepte hat bereits Alarmwerte erreicht. Wenn in gewissen Reformschulen eine Lehrerin primär eine Lernbegleiterin sein soll und eine Klassenführung im Frontalunterricht mit dogmatischer Schärfe abgelehnt wird, muss man sich über unruhige Klassen nicht wundern.
Die gedankenlose Abwertung der Führungsfunktion von Lehrpersonen hat viel damit zu tun, dass zwischen autoritärem Verhalten und echter Autorität oft kaum unterschieden wird. Kompetente Lehrerinnen und Lehrer, die engagiert und vertrauenswürdig unterrichten, dürfen Autorität beanspruchen. Es schadet jeder Schule, wenn Autorität durch höchst fragwürdige Lernkonzepte untergraben wird. Der erhellende Beitrag von Carl Bossard deckt sehr schön auf, worum es bei der Autoritätsfrage geht und was dabei alles schieflaufen kann.
Kritik am Unzulänglichen ist kein Nein zu innovativer Schulentwicklung
Wo es den Bildungsplanern bei schulischen Fehlentwicklungen offensichtlich am Willen zur Korrektur mangelt, ist Klartext absolut gerechtfertigt. Unsere Volksschule darf kein Experimentierfeld für unausgegorene Reformen sein. Es wäre aber eine arge Verzerrung, wenn aufgrund der notwendigen Kritik die positiven Seiten der Entwicklung unserer Volksschule ausgeblendet würden. Wir haben heute in mancher Hinsicht eine bessere Schule als in den «guten alten Zeiten».
Die Klassen sind kleiner, die meisten Lehrmittel sind auf einem didaktisch hervorragenden Niveau und die Unterrichtsformen sind kindgerechter. Niemand möchte zurück zu den langweiligen Deutsch-Übungsbüchern aus den Sechzigerjahren oder den seitenlangen Stöcklirechnungen in den alten Rechenbüchern. Es sind gewaltige Entwicklungen im Bereich der Lehrmittel passiert. Überall da, wo erfahrene Lehrkräfte am Konzept neuer Lehrmittel beteiligt waren, ging es entscheidend vorwärts. Die meisten modernen Schulbücher sprechen die Kinder mit attraktiver Gestaltung an und sind mit ihrem durchdachten Aufbau ein Wegweiser für erfolgreichen Unterricht.
Eine erfolgreiche Schulentwicklung beruht in erster Linie auf der Innovationskraft kompetenter Lehrpersonen. Diese sind es, die aus dem täglichen Umgang mit jungen Menschen wissen, wo es Verbesserungen braucht und wo ganz Neues gewagt werden kann. In Zusammenarbeit mit den Lehrmittelverlagen und den Fachhochschulen sollen Ideen konkretisiert, anschliessend in Versuchsklassen ausprobiert und am Ende einer gründlichen Evaluation unterzogen werden. Ist kein pädagogischer Mehrwert ersichtlich, muss über die Bücher gegangen oder eine Reform allenfalls abgebrochen werden. Dieser klar markierte Weg führt zu einem nachhaltigeren Fortschritt als jedes weit weg von der Praxis entwickelte Lernkonzept.
Weitere Texte ausserhalb unseres Themenschwerpunkts
Wie immer bildet unsere Leserbriefsammlung eine Fundgrube für schulpolitische Inputs und Beobachtungen aus dem Schulalltag. Die weiteren Texte gehören zum Pressespiegel über das Bildungsgeschehen der letzten zwei Wochen.
Hanspeter Amstutz