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Newsletter vom 24. 3. 2024

Populäre Bildungsversprechungen mit grossem Schadenspotenzial

Populäre Bildungsversprechungen mit grossem Schadenspotenzial

Forderung nach Abschaffung der Schulnoten ohne brauchbare Alternativen

Die Diskussionen um die Schulnoten gehen munter, teils gar heftig weiter. Nachdem der Schulleiterverband und die Präsidentin des LCH das bisherige Beurteilungssystem als unzweckmässig eingestuft haben, wird in vielen Kantonen konkret über die Abschaffung der Noten diskutiert. Die Stadt Luzern will dabei als Pionierin wirken. In den Primarschulen sollen ab 2026 Noten durch ein neues förderorientiertes Beurteilungsverfahren, dessen Modalitäten noch völlig offen sind, abgelöst werden. Anders im Kanton Zürich, wo der Kantonsrat bereits im letzten Sommer Noten ab der zweiten Klasse für verbindlich erklärt und deren Ersatz durch Wortzeugnisse gesetzlich untersagt hat.

Die Fakten zu den Nachteilen von Noten sind längst bekannt. Schulzeugnisse sind oft zu wenig objektiv im Hinblick auf eine generelle Vergleichbarkeit von Schulleistungen. Die Noten der einzelnen Schüler stehen in einem engen Bezug zur Klassengemeinschaft, in welcher sie ihre Leistungen erbringen. Dabei spielt es eine Rolle, ob ein eher strenger oder ein lockerer Notenmassstab in der Klasse gilt. Bekannt ist auch die deprimierende Wirkung chronisch tiefer Noten oder das allzu grosszügige Aufrunden von Noten vor wichtigen schulischen Übergängen. Die Aufzählung könnte noch um einige weitere negative Punkte ergänzt werden.

Doch wie sieht es mit den Alternativen aus? Wortzeugnisse sind fast überall gescheitert, da sie mehr oder weniger nur das umschreiben, was Ziffern auf einfachere Weise ausdrücken können. Ausführliche Lernberichte, die bezüglich der Persönlichkeitsrechte der Kinder viel heikler und bei der Leistungsbeurteilung oft unklar sind, bedeuten einen gewaltigen Aufwand für die Lehrkräfte. Man kann es drehen und wenden, wie man will, ein von Lehrpersonen mit fairer Grundhaltung ausgestelltes Notenzeugnis bleibt die beste aller praktikablen Lösungen, um den Lernstand der Schüler ermitteln zu können.

Das Lehrplankonzept des individuellen Lernens als Auslöser der Notendiskussion

Die heftige Notendiskussion ist keine Überraschung, sie ist vielmehr eine Spätfolge des auf starke Individualisierung angelegten Lehrplankonzepts. Die Bildungsexperten haben immer wieder betont, dass der neue Lehrplan ein massgeschneidertes Lernen für jedes Kind ermögliche. Ziel sind exakt beschriebene und gut messbare Kompetenzen, welche von den Kindern einer Klasse in unterschiedlichem Lerntempo erreicht werden. So kann es vorkommen, dass eine Sechstklässlerin im Englischunterricht bereits an einem Text mit Referenzniveau B1 arbeitet, während sich ihr Sitznachbar noch auf der Stufe A1 bewegt. Setzt man dieses Lernplankonzept konsequent um, beschäftigen sich schon bald alle Kinder mit einem digitalen Lernprogramm, da ein gemeinschaftlicher Unterricht mit individualisierten Zielsetzungen organisatorisch kaum zu bewältigen ist.

Die Aufsplitterung der Bildungsziele macht es fast unmöglich, ein auf Zahlen und Niveaustufen basiertes Zeugnis so zu gestalten, dass es noch einigermassen verständlich ist. Selbstverständlich kann man Kinder nach dem europäischen Referenzrahmen für Sprachleistungen beurteilen. Aber dieser ist nicht so differenziert, um Leistungen fein abgestuft auszudrücken und eignet sich für manche Fächer überhaupt nicht.

Wie sollen beispielsweise Kompetenzen in Fächern wie Geschichte oder Naturkunde in einem Lernbericht beurteilt werden? Vielleicht etwa so: «Versteht, welche Voraussetzungen zum Schweizer Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre geführt haben». Falls der Schüler die Sache nicht ganz begriffen hat, muss die Lehrerin wohl ein Kreuz im Feld «teilweise verstanden» machen. Nein, so kann das nicht funktionieren. Es bleiben Fragen über Fragen, die von Experten nur unbefriedigend beantwortet werden können. Im Newsletter präsentieren wir Ihnen ausgewählte Texte zur Notendiskussion und sind nicht überrascht, wenn sie beim Lesen öfters den Kopf schütteln.

Strukturreformen der Sekundarschule bringen keine Leistungsverbesserungen

Neben der Notendiskussion wird zurzeit auch die Struktur der Oberstufe wieder grundlegend infrage gestellt. Studien dazu werden in Diskussionssendungen zuhauf zitiert und die wildesten Behauptungen aufgestellt. Wir sind froh, dass Felix Schmutz, erfahrener Sekundarlehrer und Sprachwissenschafter, in seinem Beitrag aus dem Condorcet-Blog die Sache wieder ins Lot gestellt hat. Er widerlegt eine der meistzitierten Studien. In einem seriösen Systemvergleich weist er nach, dass auf Leistungszüge aufgeteilte Sekundarschulen in der Regel erfolgreicher sind als Gesamtschulen.

Ein grosser Teil der Reformer scheint noch immer nicht verstanden zu haben, dass Strukturreformen und rigorose didaktische Konzepte nicht der Schlüssel zu einer besseren Schule sind. Die überzogene schulische Integration mit der Abschaffung der Kleinklassen ist jämmerlich gescheitert und die Forderung nach sehr weitgehender Individualisierung der Lernprozesse erschwert eine kompetente Klassenführung. Es ist viel einfacher, ständig etwas umzubauen als dafür zu sorgen, dass vor jeder Klasse eine praxisnah ausgebildete und kompetente Lehrkraft steht.

Worauf es in einer guten Schule ankommt, ist im Schlussteil des NZZ-Gastbeitrags von Eliane Perret ausgezeichnet zusammengefasst. Sie hält fest, dass aufgrund langjähriger Forschungsergebnisse erwiesen ist, dass selbstorganisiertes Lernen viele Kinder entmutigt. Heranwachsende benötigen für eine gesunde Entwicklung vielmehr einen Unterricht, der durch eine fördernde und fair fordernde Lehrerpersönlichkeit geprägt ist.

Hanspeter Amstutz