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Newsletter vom 3. 12. 2023

Recht auf Bildung

Schwerpunkt dieses Newsletters ist das Recht auf Bildung, das in den letzten zwei Wochen in den Medien vor allem in Bezug auf den Geschichtsunterricht, die Berufsbildung und das Lesen als Grundlage allen Lernens thematisiert wurde. Es ist unsere Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger, das Recht jedes Kindes auf eine Bildung, die diesen Namen verdient, unmissverständlich einzufordern.

Umfassender Geschichtsunterricht ist unverzichtbarer Teil einer guten Bildung

Zu einer guten Bildung gehört unter anderem ein umfassender Geschichtsunterricht. Sehr auf­schluss­reich und zugleich bedrückend sind die Ausführungen unserer Kollegen Mario Andreotti und Hanspeter Amstutz bei der «Starken Volksschule St. Gallen», die uns das Verkümmern des Geschichtsunterrichts an unseren Volksschulen und Gymnasien aufzeigen. Am Fach Geschichte zeigt sich die Untauglichkeit der Reduktion des Lernstoffes auf ein paar Kompetenzen besonders deutlich. Wie soll unsere Jugend die Entwicklung der Menschheitsgeschichte und der Geschichte ihres eigenen Landes verstehen können, ohne dass sie im Klassenunterricht in einem klar struktu­rier­ten Aufbau die Geschehnisse gemeinsam mit ihrer Lehrerin nacherleben können? Das gilt zwar für jedes Fach, aber bei Geschichte ist es besonders absurd, die historische Abfolge des Geschehens aus der Zeit heraus zu zupfen, in einzelne Module zu verpacken und in einem Sammelfach unterzu­brin­gen. Im Nebelspalter finden Sie eine lesenswerte Darstellung der Problematik und der beiden Referate.

Eine zentrale Aufgabe des Faches Geschichte, nämlich die Identifizierung mit der eigenen Kultur, in unserem Fall auch mit dem Schweizer Staatsmodell, greift zudem Urs Kalberer in seinen Notizen zum St. Galler Vortragsabend auf («Geschichte unter Druck»). Das Herunterfahren der Schweizer Geschichte an unseren Schulen bis hinauf zu den Universitäten hat besorgniserregende Auswirkun­gen auf die direkte Demokratie: Um aktiv bei der Gestaltung unserer Gemeinden, Kantone und des Bundes mitwirken zu können, ist eine gründliche Einführung in die staatsrechtlichen und politi­schen Grundlagen und in die Mitverantwortung als Bürgerin oder Bürger unerlässlich. Diesen Beitrag zu leisten, steht die Schule in der Pflicht.

Duale Berufslehre als «Königsweg» der Bildung bewahren

Als ehemalige Berufsschullehrerin gibt es mir jedes Mal einen Zwick, wenn die Berufslehre als weniger erstrebenswert als das Gymi hingestellt wird. Die Antwort einer Schülerin auf die Frage, ob sie Lackiererin werden möchte: «Nein, wir lackieren lieber unsere Fingernägel», zeugt nicht von Intelligenz, sondern von Arroganz («Handwerker kritisierten jetzt auch Lehrer»). Eine notwendige Ergänzung zu den Ausführungen des Autors: Oft bleiben Lehrstellen auch deshalb unbesetzt, weil viele Jugendliche in der Volksschule schlicht nicht die Fähigkeiten und Kenntnisse erworben haben, die für eine Berufsausbildung unabdingbar sind. Wer den Hammer nicht richtig halten oder keine gerade Linie ziehen kann, muss ebenso «nachrüsten» wie diejenigen, denen die wichtigsten «Skills» für den beruflichen Alltag fehlen (Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, Lern- und Kooperationsbereit­schaft, Konzentrationsfähigkeit und Durchhaltewillen – und nicht zuletzt gute Umgangsformen).

Wollen wir etwa mit «künstlicher Intelligenz» KI diese Mängel «flicken»? («Wozu eine umfassen­de Bildung für jedes Kind? KI fördert die 20:80-Gesellschaft»). Die Bezeichnung lenkt davon ab, dass das Hirn hinter KI in Wirklichkeit die Verantwortlichen der IT-Konzerne sind. Ihre Intention ist nicht die «digitale Hilfe für den Alltag», wie sie behaupten, sondern das grosse Geschäft zulasten des gebildeten, mündigen Bürgers und des selbstverantwortlichen und fähigen Erwerbstätigen. Statt ihren intelligenten Beitrag in Schule, Berufswelt und Gesellschaft leisten zu können und auch in Alter und Krankheit menschenwürdig behandelt zu werden, soll der Grossteil der Menschen zu elektronisch gesteuertem Hilfspersonal mit schmaler Bildung abgestuft werden. Das widerspricht eklatant dem Prinzip der Chancengleichheit, das früher einmal viele von uns energisch eingefordert haben. Hier tut eine ernsthafte Diskussion not, die weit über das «Effizienz»-Denken hinausgeht: Wir kommen nicht drum herum, unserer Jugend wieder eine Volksschulbildung zu ermöglichen, die sie befähigt, ihr Leben als Erwachsene guten Mutes zu meistern.

Lesen als Grundlage allen Lernens

Wieder einmal lamentieren Journalisten und Pädagogen in unseren «Qualitätsmedien», weil viele Kinder in der Volksschule ungenügend lesen lernen. Dabei ist es längst ein offenes Geheimnis, wie man flüssig und mit Freude lesen lernt und dabei seinen Wortschatz und seinen geistigen Horizont erweitert. Didaktikprofessorin Anke Schmitz ist der Meinung, Jugendliche sollten das Tablet nut­zen, um digitale Texte «kritisch» zu lesen, das heisst Fake News, Desinformation und Manipulation zu erkennen und sich eine Meinung zu politischen Fragen zu bilden («Lesekrise»). Ja sicher, dazu nutze ich das Tablet ebenfalls. Zuweilen google ich auch nach Synonymen für einen Begriff, der nicht so ganz in meinen Text passt. Aber solcherlei Anwendung digitaler Geräte ist den fortge­schrittenen Leserinnen vorbehalten. Es schläckt's kei Geiss weg: Bevor wir darüber diskutieren, ob unsere Schüler Texte auf Papier oder elektronisch lesen sollen, müssen wir viel Zeit und Raum haben, um die Grundlagen zu legen, mit ihnen lesen und schreiben zu üben, Schritt für Schritt, inklusive Grammatik und Rechtschreibung. Dabei lernen sie auch immer besser, einen Text zu ver­stehen, und damit kann die Freude am Lesen entstehen und wachsen. Sein Textverständnis zu ver­bessern, so dass man die Fragen eines Pisa-Tests beantworten kann, ist also keine Hexerei. Aber es braucht genügend Zeit und Musse, möglichst ohne dass in der Aufbauphase noch zwei Fremdspra­chen auf dem Stundenplan stehen.

«Leseschwäche wird zur Gefahr für die Demokratie», lesen wir in der NZZ am Sonntag. Ja, klar. Schon unsere Vorfahren um 1830 wussten, dass die Bürger, um ihre direktdemokratischen Rechte und Pflichten auszuüben, lesen und schreiben können sowie die Grundlagen des Staatssystems ihres Kantons kennen mussten. Also errichteten sie die Volksschule und Abend- oder Wochenendschulen für die Bauernkinder, übrigens auch für die Mädchen, obwohl sie damals nicht abstimmen und wählen durften. Und dazu sollen wir heute, mit oder ohne Computer, nicht fähig sein? «Die Hälfte der 15-Jährigen in der Schweiz liest heute so schlecht, dass sie für den Alltag nicht ausreichend gewappnet ist»: Dies sagt laut NZZ ein Professor für Deutschdidaktik an der Pädagogischen Hoch­schule Zürich. Dann tun Sie etwas, Herr Professor! Sie und ihre Kollegen an den PHs sitzen am Hebel. Sie stehen in der Pflicht, die künftigen Lehrerinnen und Lehrer adäquat auszubilden.

Carl Bossard erklärt in seinem «Plädoyer für eine Renaissance der Schullektüre», was es braucht, damit Kinder lesen lernen: Die Lehrerin muss Gegensteuer geben und sich die Zeit und die Freiheit nehmen (dürfen), mit ihren Schülern zusammen zu lesen, denn «die Freude am Lesen kommt mit dem Können.» Um die Ursachen der heutigen «Lesekrise» richtig einordnen zu können, sollten wir – und vor allem die Bildungsdirektionen und -«experten» – die Forderung von Eliane Perret nach einer «sorgfältigen Analyse der Lesemisere» ernstnehmen: Wer behauptet, das individualisierte Lernen oder die Ausstattung der Kinder mit digitalen Geräten sei förderlich für deren Lesefähigkeit, redet am Problem vorbei. Und wer den Schritt des schwedischen Schulwesens, mit den Kindern wieder Bücher zu lesen, als ewiggestrig abtut, fördert damit, wie Perret darlegt, nicht die Freude und die Fähigkeit der Jugend zu lesen, sondern lediglich die ökonomischen Interessen der Bildungs­industrie. Aber gönnen Sie sich selbst den Genuss, die Artikel dieser beiden Experten zu lesen.

Welche Schule brauchen wir?

Zu dieser Grundfrage, die uns alle mit Recht nicht loslässt, referierten am letzten Mittwoch in St. Gallen der Rektor der PH St. Gallen, Horst Biedermann, und Carl Bossard, Gründungsrektor der PH Zug (im Rahmen der Vortragsreihe Pädiatrie, Schule und Gesellschaft des Ostschweizer Kinder­spitals). Ohne den Anspruch auf eine umfassende Besprechung dieses spannenden Abends möchte ich hier meinen persönlichen Eindruck wiedergeben. Horst Biedermanns Referat erinnerte mich an den Lehrplan 21: Viele Aufgaben der Schule, ausgerichtet auf die «Schule der Zukunft», aber wenig konkret gefasst, eine Fülle von Begriffen und Themen, ein Gleiten auf der Oberfläche. Zum Beispiel sei das Lernen der Kulturtechniken schon wichtig, aber es brauche weiterreichende Kompetenzen. Die Einordnung von Gleichaltrigen in eine Klasse, der Lehrer steht vorne, der Unter­richtsstoff ist von ihm vorgegeben – dies entspreche nicht den Anforderungen an die Schule der Zukunft.

Demgegenüber führte Carl Bossard die Zuhörer von Anfang an zum Wesentlichen, zum «Kern der pädagogischen Arbeit», nämlich der pädagogischen Trias Lehrerin – Schüler – Lerngegenstand. Grundkonstante ist die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler: «Das Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren». Dieser Kern sei gefährdet, wenn die Hälfte der Jugendlichen nicht genügend lesen könne. Bossard hält zudem daran fest, dass die Freiheit des Lehrers unverzichtbar ist, um verantwortlich unterrichten zu können. Je grösser die Vorgaben und die Steuerung von oben durch die Bildungsdirektionen, desto stärker werde diese Freiheit minimiert. Ebenfalls minimiert sich die Zeit zu üben und zu wiederholen, was notwendigerweise zum Lernen gehört, durch die Fülle von Lerninhalten.

In der Diskussion wurden brennende Fragen gestellt: Warum geben immer mehr Lehrer ihren Beruf auf? Wieso gehen Drittklässler mehrheitlich gern zur Schule, Achtklässler aber nicht? Fragen, die uns weiter beschäftigen werden.

Antworten zu 1: Biedermann: Die Fluktuation sei gar nicht grösser als in anderen Berufen (Aus­rede, damit man die PHs nicht in die Pflicht nehmen kann!!). Bossard: Durch die heutige Situation (Überschüttung der Lehrkräfte mit Bürokratie usw.) wird ihnen die Freiheit und der Raum zum Unterrichten und zum befriedigenden Wirken genommen.

Antworten zu 2: Biedermann: Die Schule sei halt eine «Zwangsveranstaltung». Bossard: Wenn die Lehrerin in Beziehung mit den Schülern ist, gehen sie gern zur Schule.

Zum «Kern der pädagogischen Arbeit», wie ihn Carl Bossard schildert, sei sein Artikel «Bildung als Erlebnis von gemeinsamer Gegenwärtigkeit», den wir an den Anfang unserer Textsammlung ge­stellt haben, zu empfehlen.

Für die Redaktion der Starken Volksschule Zürich

Marianne Wüthrich