Editorial
Als wir vor bald drei Jahren erstmals mit «Einspruch» an die Öffentlichkeit gingen, waren wir vom Interesse überwältigt. Wir mussten die Broschüre gleich viermal auflegen. Insgesamt wurden 12 000 Exemplare in der Schweiz verkauft.
Damals ging es uns darum, dem allenthalben medial suggerierten Eindruck entgegenzutreten, die Kritik an den seit Jahren laufenden, kaum je offen diskutierten «Schulreformen» sei ausschliesslich konservativ-rechts motiviert. Gebetsmühlenartig wurde wiederholt, diese «Reformen» würden dem gesellschaftlichen Wandel entsprechen, seien also unbestritten. Menschen, die solche «Reformen» ablehnen, seien dem Fortschritt grundsätzlich feindlich gesinnt. Deshalb baten wir zahlreiche politisch links bis linksliberal denkende, bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und im schulisch-pädagogischen Umfeld Tätige, ihren kritischen Standpunkt zu den nicht enden wollenden «Reformen» und der Art, wie sie durchgesetzt werden, darzulegen; viele haben dies gerne getan. Unsere Forderung mit «Einspruch» war: Innehalten, gemeinsam nachdenken und prüfen, ob diese permanente Reformeuphorie der Schule wirklich einen Fortschritt oder eher Rückschritte beschert hat. Wir verlangten also einen echten öffentlichen Diskurs.
Eigentlich wissen die Menschen in der Schweiz, dass unsere Schulen sehr erfolgreich waren und wesentlich zu unserem heutigen Wohlstand beigetragen haben. Gerade deshalb fragen sich viele, wer eigentlich diesen immensen Druck zu immer neuen Umwälzungen in unseren Bildungsinstitutionen aufsetzt und notorisch aufrechterhält. Es erstaunt, dass Politik und Bildungsverwaltung fast unisono jeglicher «Reform» das Wort reden, als handle es sich um eine existentielle Zwangsläufigkeit. Erfahrene Pädagoginnen und Pädagogen wundern sich, wie es so weit kommen konnte, dass Bildung nur noch Sache von Experten sein soll. Es ist offenkundig, dass Schulpflege und Bezirksschulrat, Gremien, die es jedem Bürger und jeder Bürgerin erlauben, sich für die Volksschule zu engagieren, mit der Einführung der «professionellen» Schulleitungen marginalisiert worden sind. Das hohe «Ethos der Schule», das die OECD-Experten bei ihrem ersten Länderexamen 1989 in ihrem Bericht beschrieben, ist seit dieser Professionalisierung radikal in Frage gestellt. Zwischenzeitlich verstehen immer weniger Eltern, was in den Schulzimmern wirklich geschieht. Ein allgemeines Unbehagen breitet sich aus, Väter, Mütter und Grosseltern müssen immer häufiger an Abenden und Wochenenden mit ihren Kindern Schulstoff nacharbeiten und erleben, dass bei ihren Kindern die Begeisterung fürs Lernen und «In-die-Schule-Gehen» zusehends schon nach kurzer Zeit versiegt. Immer mehr Eltern sehen sich gezwungen, ihren Kindern privaten Nachhilfeunterricht zu ermöglichen – dies zumeist unter grossen finanziellen Opfern – oder sie auf Privatschulen zu geben. Kinderärzte sprechen von «Burnout» schon bei Unterstufenschülern. In Radiosendungen wird über die Frage diskutiert, ob die öffentliche Schule noch das Vertrauen der Eltern geniesst oder nicht. Solche Indizien weisen darauf hin, dass die top-down aufoktroyierten «Reformen» unseren Kindern z. T. schwer zusetzen statt ihrer Entwicklung zu dienen.
In dieser neuen Ausgabe von «Einspruch» wollen wir die «Betroffenen» zu Wort kommen lassen. Sie sprechen im Namen vieler ebenfalls in Not geratener Familien. Nicht überall zeigen sich unerfreuliche Phänomene in der gleichen Weise. Das hat vor allem damit zu tun, dass nicht alle Schulleitungen die verordneten «Reformen» mit derselben Beflissenheit in ihren Kollegien implementieren. Doch die meisten persönlichen Berichte ähneln sich. Sie zeigen, dass sehr vieles in Schule und Unterricht heute völlig anderen didaktischen und inhaltlichen Grundsätzen folgt als noch vor wenigen Jahren. Aufgrund des geschwundenen Einblicks in die Schule, der heute nur noch den «Experten» vorbehalten ist, ziehen viele Eltern notgedrungen den Schluss, die Probleme ihrer Kinder würden auf Defizite ihrer Erziehung oder in der Persönlichkeit ihres Kindes hinweisen.
Die Schilderungen von Eltern als Zeitzeugen werden in dieser Broschüre durch Aussagen verschiedener kritischer Experten aus Heilpädagogik, Kinder- und Jugendmedizin ergänzt. Es kommen auch Vertreter der Lehrerschaft bzw. Lehrerverbände, Berufsausbildung, Erziehungswissenschaft und Lehrerbildung zu Wort. So lassen sich die Vorgänge differenzierter einordnen und es kann besser beurteilt werden, was heute eigentlich wirklich schiefläuft.
Eine düstere Seite der Reformen an den Schulen sind die Methoden, mit denen versucht wird, alle Beteiligten auf den ideologisch «richtigen» Weg zu trimmen. Mit teils sehr subtilen, aber klar manipulativen Techniken, die vorwiegend der Betriebswirtschafts- bzw. Managementlehre entlehnt sind, wird ein offener Diskurs sowohl in den Institutionen als auch in der Öffentlichkeit gezielt unterbunden. Professionelle Steuerungsmechanismen führen zu einem allgemeinen Klima kleinlauten Schweigens und des Rückzugs ins Private, sodass jedermann versucht, mit der Situation selber fertig zu werden. Dieser bedenkliche Zustand manifestiert sich u.a. daran, dass viele Eltern und Lehrpersonen, die in dieser Broschüre zu Wort kommen, nicht offen sprechen können oder wollen. Aus Angst vor Repressionen, Stigmatisierungen und Nachteilen für Kinder und Familie haben sie zumeist die Anonymität gewählt – dies sehr ungern. Allein dieser Umstand sollte ein Alarmzeichen für jeden demokratisch gesinnten Menschen in unserem Land sein.
Beat Kissling, Kantonsschullehrer & Hochschuldozent
Alain Pichard, Lehrer auf der Oberstufe, GLP
Yasemin Dinekli, Kantonsschullehrerin
Inhalt
KAPITEL 1 BETROFFENE ZWISCHEN OHNMACHT UNO WIDERSTAND
ROGER VON WARTBURG | WIDERSPRÜCHE
NICOLE FUCHS & SUZANNE WEIGELT | DEN POLITISCHEN WEG WAGEN
STIMMEN AUS NIEDERHASLI
BEOBACHTUNGEN EINES VATERS | OFFICE-UNTERRICHT IN DER SEKUNDARSCHULE ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE GANZE FAMILIE
DAVID HOLZMANN | FALLGRUBE: SELBSTENTDECKENDES LERNEN
GABRIELLA HUNZIKER | INDIVIDUALISIERTES LERNEN AUF DEM RÜCKEN DER ELTERN – ERFAHRUNGEN IN DER PRIMARSCHULE
EIN VATER BERICHTET | FEHLENDE SYSTEMATIK IM MATHEMATIKUNTERRICHT FÜR 9-JÄHRIGE
ERFAHRUNGSBERICHT EINES INFORMATIKERS UND VATERS MIT DER DIGITALISIERUNG IN DEN SCHULEN |REALITÄTSCHECK
JÜRG BARBEN/ ARNOLD BÄCHLER |GEHT DER LEHRPLAN UNS PÄDIATER ETWAS AN?
ROMEDIUS ALBER / THOMAS BAUMANN | WESHALB SO VIELE KINDER IN DER SCHULE KRANK GEMACHT WERDEN
STIMMEN AUS DER BERUFSWELT (GESPRÄCH MIT TONI BLASER / JONATHAN ÖGLÜ)
KAPITEL 2 ELEMENTE DER NEUEN «REFORMIERTEN» SCHULE
RICCARDO BONFRANCHI | DIE INTEGRATION/INKLUSION VON LERNBEHINDERTEN UND GEISTIG BEHINDERTEN KINDERN UND DIE BEDENKLICHEN FOLGEN IN DER SOL-DOMINIERTEN SCHULE
PHILIPP LORETZ | DAS PASSEPARTOUT-PROJEKT - MAHNMAL EINER EXPERTOKRATISCHEN SCHULREFORM
CHRISTINE STÄHELIN UND MICHAEL KOGERUS | SELBSTORGANISATION, SELBSTMOTIVATION, SELBSTBEURTEILUNG – SCHULUNG DES «HUMANKAPITALS»
ROLAND REICHENBACH | LEIDER GIBT ES AN DEN SCHULEN EINE NEO-MANIE
KAPITEL 3 GESTEUERTE SCHULE, GEGÄNGELTE LEHRPERSONEN
JOCHEN KRAUTZ | IMPERATIVE DES «WANDELS»: SCHULREFORM IN DER POSTDEMOKRATIE
ALLAN GUGGENBÜHL | EURE MEINUNG IST UNS WICHTIG - (CHANGE-) MANAGEMENT IN DER LEHRERBILDUNG
KAPITEL 4 DER DRIFT DES SCHWEIZER BILDUNGSSYSTEMS – LEHREN AUS DER ANGELSÄCHSICHEN WELT
STEPHEN BALL | DIE TRANSFORMATION VON BILDUNG UND DEMOKRATIE
BEAT KISSLING | AMERIKANISCHE ELTERN IM WIDERSTAND GEGEN TESTKULTUR UND KOMMERZIALISIERUNG DER ÖFFENTLICHEN SCHULEN
KAPITEL 5 DAS DILEMMA DER LINKEN
ALAIN PICHARD | WIE ICH VOM «REVOLUZZER» ZUM «KONSERVATIVEN» (GEMACHT) WURDE
FELIX HOFFMANN | LINKE LÄSST SCHÜLER IM REGEN STEHEN
SCHULREFORMEN ALS MITTEL ZUM ZWECK PRIVAT-WIRTSCHAFTLICHER PROFITE
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